Widerruf oder kein Widerruf - das ist hier die Frage

Mehr zum Thema: Versicherungsrecht, Lebensversicherung, Widerruf, ewiges, Widerrufsrecht, Bundesverfassungsgericht
3,33 von 5 Sterne
Bewerten mit: 5 Sterne 4 Sterne 3 Sterne 2 Sterne 1 Stern
9

Bundesverfassungsgericht kippt BGH-Entscheidung zum "ewigen Widerrufsrecht"

Die deutschen Lebensversicherer kommen nicht zur Ruhe: Nachdem der Europäische Gerichtshof die in der Zeit von 1994 bis 1997 geltende Regelung des § 5 a VVG im Hinblick auf die Jahresfrist gekippt hat, kommt bei immer mehr Versicherungsverträgen ein sog. „ewiges Widerrufsrecht" in Betracht. Viele Verträge können also auch noch nach Jahren – und sogar nach erfolgter Kündigung – auf Grund eines Widerrufs rückabgewickelt werden. Die Folge ist eine Erstattung aller eingezahlter Beiträge mit einem kleinen Abzug für gewährten Versicherungsschutz – fast immer deutlich mehr, als der vom Versicherer bei Kündigung ermittelte sog. Rückkaufswert.

Es gibt drei denkbare Konstellationen für einen Widerruf:

„Ewiges Widerrufsrecht" bejaht

BGH, Urteil vom 07.05.2014, IV ZR 76/11 (EuGH, Urteil vom 19.12.2013, C-209/11)

Der Versicherungsnehmer hat weder bei Abgabe seiner Vertragserklärung (Antragstellung) noch zu einem späteren Zeitpunkt die Widerrufsbelehrung, die Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformationen erhalten.

In diesem Falle ist die Rechtslage eindeutig: Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 07.05.2014 gilt dann ein „ewiges Widerrufsrecht", mit der Folge, dass der Versicherer sämtliche eingezahlten Beiträge erstatten muss. Einen kleinen Abzug für die Gewährung von Risikolebensversicherungsschutz wird sich der Versicherungsnehmer entgegenhalten müssen. Denkbar ist auch eine Verzinsung der eingezahlten Beiträge.

„Ewiges Widerrufsrecht" verneint:

BGH, Urteil vom 16.07.2014, IV ZR 73/13

In einem weiteren zu entscheidenden Fall hatte der Versicherer mit der Übersendung des Versicherungsscheins eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung, Allgemeine Versicherungsbedingungen und Verbraucherinformationen übersandt - in diesem Fall vollständig und richtig.

Den Vertragsschluss in dieser Weise nennt man „Policenmodell", weil die Annahme des Vertrages nur bei der die Übersendung des Versicherungsscheins durch den Versicherer die Vertragserklärung des Versicherers ist, das Schweigen des Versicherungsnehmers innerhalb der Widerrufsfrist als Annahme galt.

Der Bundesgerichtshof hat - überraschend - entschieden, dass das Policenmodell in dieser Form (bei ordnungsgemäßer Belehrung mit Übersendung des Versicherungsscheins) nicht zu beanstanden sein soll. Der BGH hat auch gleich mitentschieden, dass der Abschluss des Versicherungsvertrages in bis 2007 üblichen „Policenmodellen" nicht gegen Europarecht verstoßen soll. Damit hat er eigentlich seine Kompetenzen überschritten, denn diese Frage darf nur der Europäische Gerichtshof entscheiden. Dennoch hat der BGH entschieden, dass das Policenmodell, wenn es sauber ausgeführt wird, zulässig sein soll und das Widerrufsrecht von 14 bzw. 30 Tagen auslösen soll.

„Ewiges Widerrufsrecht" für möglich erachtet:

BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 02.07.2014, 1 BvR 543/12 u. a.

Das Bundesverfassungsgericht sieht dies anders und hat eine Verfassungsbeschwerde positiv entschieden, die sich mit derselben Frage befasste. Das Bundesverfassungsgericht ging - anders als der BGH - davon aus, dass die Frage der Zulässigkeit des Policenmodells nicht durch nationale Gerichte geklärt werden dürfe, sondern tatsächlich dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden müsse. Dies muss nun das Oberlandesgericht Köln, wohin der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, veranlassen.

Es gibt noch eine Reihe weiterer Verfahren, die beim Bundesgerichtshof anhängig sind und sich mit ähnlichen Fragen befassen. So ist z. B. noch nicht geklärt, ob ein „ewiges Widerrufsrecht" auch dann gilt, wenn zwar mit dem Versicherungsschein im „Policenmodell" die Widerrufsbelehrung, die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformationen übersandt werden, diese aber formal oder inhaltlich fehlerhaft sind. Dann dürften die Grundsätze der ersten BGH-Entscheidung vom 07.05.2014 gelten mit der Folge, dass auch hier ein ewiges Widerrufsrecht ausgelöst ist.

Danach bleibt das Rennen auch nach der Entscheidung des BGH vom 16.07.2014, nach der das Policenmodell grundsätzlich europarechtlich nicht zu beanstanden sein soll und ein Widerrufsrecht deshalb offen: In allen Fällen sollte sorgfältig geprüft werden, ob aufgrund eines „ewigen Widerrufsrechts" ein Widerruf der Vertragserklärung mit der Folge der Rückabwicklung des Versicherungsvertrages möglich ist.

Das könnte Sie auch interessieren
Versicherungsrecht Rechte der Versicherungsnehmer gestärkt
Versicherungsrecht Das langsame Sterben der Lebensversicherer