Was der Richter nicht vermag

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Er war kein Raser. Mit Alkohol im Blut fuhr er nie, er drängelte nicht, fuhr besonnen. Bis zu diesem einen Tag. An diesem Tag passte er nicht auf, fuhr schneller als erlaubt, überholte auf grader, frei einsehbarer Strecke. An diesem Tag sah er die Frau auf dem Fahrrad nicht, die dort stand und abbiegen wollte.

Rettungskräfte konnten nichts mehr für die Frau tun.

Er stand unter Schock. Wie lebt man weiter mit dieser Schuld? Wie geht man damit um, einem Menschen das Leben genommen zu haben?

Man kann sich verhärten, sein Herz verschließen, sich einen Anwalt nehmen, der einen möglichst "raushaut". Der seinem Mandanten empfiehlt, vor Gericht nicht auszusagen, knallhart auftritt und das Opfer ausblendet. Der die Schuldfrage angreift. Man kann sich verstecken, Mauern ziehen.

Oder man geht den Weg, den der Autofahrer gewählt hat. Er säuberte die Unfallstelle, stellte Kerzen auf. Er ließ sich helfen, den Schockzstand langsam zu verlassen und mit der Schuld umgehen zu können. Vorsichtig selbst wieder ins Leben zu finden. Er wählte sich eine Anwältin, die auf ihn einging und seinen Wunsch mittrug, offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen. Die für ihn da war.

Dann sprach er vor Gericht. Von sich, von dem Unfall, von der Zeit seitdem. Von der Frau. Wie leid es ihm tue. Er teilte sich mit, teilte alles mit. Er öffnete sich, gab sich ganz in die Hände des Richters.

Das Gericht, Staatsanwalt und Opferanwalt glaubten ihm. Hier war niemand, der Einsicht und Sühne nur spielte. Hier war ein junger Mann, der gestand, aus tiefsten Herzen um Verzeihung bat und bis ins Mark litt und weiter leiden wird. Hier war ein junger Mann, der wusste, dass er für den Tod eines Menschen verantwortlich war und den Rest seiner Existenz damit und mit sich leben musste.

Nach der Verhandlung erfüllte sich dann noch der sehnlichste Wunsch des Angeklagten. Ihm war vorher egal gewesen, wie hoch die Strafe werden würde. Doch wenn es irgendwie ging, wollte er gerne mit dem Sohn der Frau sprechen. Das Wort an ihn richten, ihm persönlich sagen, wie leid es ihm tue.

Seine Anwältin fragte den Sohn, ob er einem Gespräch zustimmen würde. Dieser tat es. Viel mehr noch:

Der Sohn reichte dem jungen Mann die Hand.

Eine Geste, die alles veränderte. Der Tod wurde damit nicht rückgängig gemacht. Auch der Schmerz nicht, oder das Leid. Doch in der Sackgasse wurde eine Durchfahrt sichtbar. Eine Zukunft. Für den Täter - und für die Familie des Opfers.