Der politische Disput

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Das politische Personal in Deutschland ist nicht nur zweitklassig, sondern, abgesehen von wenigen Ausnahmen, sogar drittklassig. Dies liegt an der Parteienstruktur in unserem Land. Alle Parteien funktionieren dabei im Grunde gleich:

Kernzelle der Partei ist der heimische Ortsverband. Darüber steht der Kreisverband, der weitgehend mit den kommunalen Grenzen und Gliederungen in unserem Land identisch ist. Orts- und Kreisverbände decken das weite Feld der Kommunalpolitik ab, möchte man meinen. Dennoch wird in diesen Gremien auch entschieden, wer die Partei auf Landes- und möglicherweise auch auf Bundesebene vertreten darf. Es kann also nicht schaden, in einem Ortsverband wohl gesonnen zu sein oder sogar, diesem vorzustehen. Hat man als Ortsvorsitzender einen Ortsverband hinter sich, verschafft einem dieses „Standing“ eine gute Machtposition im Kreisverband. Voraussetzung dafür ist es allerdings, dass der Ortsverband einigermaßen groß ist, da man ansonsten von den größeren Ortsverbänden, die dann auf Kreisparteitagen mehr Delegierte zu stellen berechtigt sind, dominiert wird. Hat man aber nun einmal einen kleinen Ortsverband, dann kann man mit einigermaßen gutem Verhandlungsgeschick politische Bündnispartner finden, um mit einer Gruppe anderer Ortsverbände wiederum Mehrheiten zu schaffen.

In diesem Fall ist man dann allerdings auch verpflichtet, die Macht entsprechend zu teilen („divide et impera“, auf Deutsch: Teile und herrsche). Ein Ortsverband ist aber dann von geringem Wert, wenn er nicht wie eine Wand hinter seinem Vorsitzenden steht oder gar völlig zerstritten ist. Dies zwingt bereits an der aller untersten Keimzelle einer Partei dazu, die so genannte Parteidisziplin zu wahren. Diese Parteidisziplin ist es, die den freiheitlich demokratischen Disput bereits im Keim erstickt und sich wie ein Schimmelpilz durch alle Gremien der Parteien bis hin zur Parteispitze breitmacht.

Nehmen wir zum Beispiel Elke Schlonz (Name ist frei erfunden). Elke ist im Ortsverband Klötenbüttel seit vielen Jahren eine nicht wegzudenkende Helferin: In jedem Wahlkampf steht sie an der Seite des Vorsitzenden und verteilt beim Canvassing (Fachbegriff für Wahlkampfstand) etliche Flugblätter.

Frau Schlonz ist gelernte Hauptschullehrerin im Ruhestand, jedoch nach Geburt ihres dritten Kindes schwerpunktmäßig im Familienmanagement (der neudeutsche Begriff für „Hausfrau“) tätig. Darüber hinaus engagiert sie sich im Elternrat an der Schule ihres ältesten Kindes. Elke hat sich jahrelang kommunalpolitisch stark gemacht für die Umgehungsstraße von Klötenbüttel. Mehrfach wurde sie im Klötenbütteler Anzeiger, manchmal sogar mit Bild, erwähnt. Im Turnsportverein „Klötenbütteler Schwebebalken e.V.“ bekleidet sie seit langem das Amt der Kassenprüferin, das sie gewissenhaft erfüllt. Nun ist Kreisparteitag und Elke hat lange über sich und ihre unzweifelhaft großen Fähigkeiten nachgedacht. Sie will in den Kreisvorstand ihrer Partei und heimlich träumt sie von einer Nominierung als Landtagskandidatin. Klötenbüttel ist ein recht großer Ortsverband, so dass ein gewisser Einfluss im Kreis besteht.

Der Ortsvorsitzende kennt den Wunsch seiner unentbehrlichen Helferin und kann diesen nicht einfach übergehen. Er selber ist bereits Mitglied des Kreisvorstandes, ein Vorrecht eines jeden Ortsvorsitzenden, da der Kreisverband versucht, alle Bereiche des Kreises abzudecken, damit es nicht zu Hausrevolten kommt. Ein zweites Kreisvorstandsmitglied für Klötenbüttel ist aber ein Problem und Platz machen möchte der Vorsitzende nicht, da er sonst als Stadtrat in Klötenbüttel kein ausreichendes „Gewicht“ hätte. Man trifft sich daher im Vorfeld des Kreisparteitages mit dem Vorsitzenden der Nachbargemeinde, Wilfried Schmitz aus Neupfuhl.

Dieser will auf keinen Fall auf seinen Posten im Kreisvorstand verzichten, da es sonst mit der Wiedererlangung seines Kreistagsmandates im Kreis Waldschenk sehr schwer werden würde. Er bietet aber dem Klötenbütteler Vorsitzenden einen Deal an: Frau Schlonz verzichtet darauf, Kreisvorstandsmitglied zu werden und soll dafür vom Kreisverband als Landtagskandidatin für den Wahlkreis ins Rennen geschickt werden. Außerdem werde sie Delegierte für den Landesparteitag der Partei, wo die Delegierten des Kreises Waldschenk versuchen würden, sie für einen aussichtsreichen Listenplatz für die Landtagswahl vorzuschlagen. Elke ist zufrieden, denn der Kreisvorstandsposten sollte ihr ohnehin nur dazu dienen, sich den höheren Weihen der Politik eine Stufe zu nähern. Da sie nunmehr heldenhaft und uneigennützig auf einen Posten im Kreisvorstand verzichtet hat, findet sie in ihrem Kreisverband zahlreiche Freunde, die ihr etwas schuldig sind. Die geballte Power der Ortsverbände Klötenbüttel und Neupfuhl führt schließlich dazu, dass sie ohne Gegenvorschlag Wahlkreiskandidatin ihrer Partei für den Kreis Waldschenk wird.

Januar 2009: Landesparteitag der Christlich-liberalen Sozialpartei (CLS). 20 Delegierte des Kreises Waldschenk sitzen in einem großen Saal mit über 200 weiteren Delegierten ihrer Partei und beraten, wie die Landtagswahl 2009 für die CLS erfolgreich gestaltet werden kann. Eine echte Diskussion findet allerdings nicht statt, denn heute ist Wahlparteitag. Die Programme wurden auf einem Programmparteitag beschlossen, der ein halbes Jahr zuvor stattgefunden hatte. Was man dort beschlossen hat, ist jedem Delegierten nicht mehr so ganz geläufig. Die Delegierten sind auch viel zu nervös, um sich heute noch auf Programme konzentrieren zu können. Vielmehr geht es in der Hektik des Tages darum, die sechs sicheren Listenplätze für die Landtagswahl zu bestimmen. Hierzu trafen sich im Vorfeld des Parteitages bereits die acht Kreisvorsitzenden, um die Liste festzunageln. Nach der einstündigen Rede des Landesvorsitzenden, die ständig begleitet wurde vom Beifall der Delegierten, treffen sich die einflussreichen Kreisvorsitzenden und ihre Verhandlungsführer noch einmal. Würde die CLS 15 % der Stimmen bei der Landtagswahl erhalten, gäbe es sechs Mandate im Landtag des Bundeslandes. Da man als Partei zu klein ist, um Wahlkreise direkt zu gewinnen, ist die CLS auf ihren prozentuellen Anteil und die damit verbundenen Sitze, die sich nach der von ihr erstellten so genannten Reserveliste ergeben, angewiesen. Die CLS bestimmt also selber, welche Abgeordneten für sie ins Landesparlament ziehen.

Der Bürger kann durch sein Votum lediglich beeinflussen, wie hoch der Anteil der CLS-Abgeordneten im neu zu wählenden Landtag ist. 15 % müssten zu schaffen sein. Zu wenig, um alle acht Kreise im Landtag unterzubringen, denn Platz sieben und acht der Reserveliste sind aufgrund der Wahlprognosen eher nicht im Landtag vertreten. Es ist daher Stunk zwischen den Kreisverbänden vorprogrammiert. Bei den Vorfeldtelefonaktionen der Kreisvorsitzenden stellte sich heraus, dass die beiden größten Kreisverbände miteinander verfeindet sind. Immer wieder versuchte der einflussreiche und große Kreis Wülmering zwei Kandidaten auf der Liste durchzusetzen. Auch diesmal bestand Wülmering darauf, zumindest einen der ersten drei Plätze für seinen Kandidaten, den angesehen Hochschulprofessor Dr. Schlau, zu erhalten. Dies führte nunmehr zu einer Gegenreaktion des zweitgrößten Kreises Gramberg. In unendlich zahlreichen Telefonaten hat der Kreisvorsitzende von Gramberg mehrere kleinere Kreisverbände mit ins Boot geholt, um Wülmering zu überstimmen: Auch den Kreis Waldschenk: Elke Schlonz kennt zwar außerhalb Waldschenks niemand, sie soll aber aufgrund der Absprache der „Kreisfürsten“ für den aussichtsreichen Platz drei der Landesliste kandidieren.

Das Bündnis steht. Der Parteitag wählt die von den diversen Kreisvorsitzenden zusammen geschmiedete Liste eisern durch, ohne Rücksicht auf Verluste und Ansehen der einzelnen Kandidaten. Platz eins und zwei sind bereits vergeben. Beide gewählte Kandidaten hatten gleich viele Stimmen und Gegenstimmen, da die verfeindeten Kreisverbände strikt ihre Kandidaten unterstützen, so dass die Ergebnisse nach der Größe der Kreisverbände, beziehungsweise der sie vertretenden Delegierten, im Grunde vorab feststanden. Nun geht der Kreisvorsitzende des Kreises Waldschenk an das Mikrofon. Helles Scheinwerferlicht der Kameras lässt ihn wie einen Fernsehstar erscheinen. Er hält kurz inne, um dann Elke Schlonz für den Listenplatz drei vorzuschlagen. Die verbündeten Kreisvorsitzenden wissen Bescheid und applaudieren brav, was schließlich „ihre“ Delegierten aus ihrem Kreisverband dann auch tun. Wülmering will aber das Feld nicht kampflos räumen. Der Kreisvorsitzende schlägt deren Kandidaten, Prof. Dr. Schlau, vor.

Es erfolgt die Kandidatenvorstellung: Als erste spricht Elke Schlonz: Als sie eröffnet, drei Kinder zu haben, gibt es tosenden Beifall des Parteitages. Auch mit dem Kreis Wülmering befreundete Kreisverbände haben Zweifel, ob es nicht besser wäre, der männerlastigen Liste nicht doch besser eine im Leben stehende Frau (mit drei Kindern!) hinzuzufügen. Nun spricht Wülmerings Kandidat Prof. Dr. Schlau. Er sei sich sicher, dass seine Konzeption zur Verbesserung von Forschung und Lehre als Schwerpunkt des Programms der CLS ein positiver Beitrag zum Erfolg seiner Partei darstellen würde. Schlau nennt Zahlen: In eloquenter Weise beschreibt er die Versäumnisse der gegnerischen Partei, wobei er niemals arrogant wirkt. Auch ihm zollt der Landesparteitag brav Beifall. Als das Ergebnis verkündet wird, neigt sich jedoch sein Kopf enttäuscht nach unten: 122 Stimmen für Elke Schlonz zu 92 Stimmen für Prof. Dr. Schlau, bei 2 Enthaltungen und zwei Nein-Stimmen: Genau das gleiche Stimmergebnis wie bei den Wahlen zuvor. Elke Schlonz reißt die Arme hoch. Ihr Kreisvorsitzender überreicht ihr stolz einen Strauß Blumen. Elke Schlonz verstärkt damit definitiv und unwiderruflich die Fraktion des CLS im nächsten Landtag. Hiermit endet diese kleine Geschichte. Eine Geschichte, wie sie sich leider tausendfach in deutschen Parteien und Parlamenten abspielt.

Es wäre müßig noch darüber zu berichten, dass die CLS am Ende Koalitionspartner in der neuen Regierung des Bundeslandes wurde. Elke Schlonz, als Frau mit Bildungskompetenz, wurde übrigens in dieser Koalition (aufgrund des Proporzes) neue Wissenschaftsministerin ihres Landes. In den kommenden Talkshows und Fernsehjournalen wird sogar spekuliert, ob sie nicht auch für höhere Ämter geeignet ist. In Klötenbüttel ist man jedenfalls nur noch stolz auf seine ehemalige Mitbürgerin.