Behindertenrecht: "Behörden verstoßen oft gegen die Menschenwürde"

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Beeinträchtigungen, Nachteilausgleich, Barrierefreiheit, GdB - Rechtsanwalt Inhestern im Interview zu Rechten von behinderten Menschen

Das Fehlen eines Beines ist kein ausreichender Grund für die berechtigte Nutzung eines Behindertenparkplatzes. Diese Entscheidung des Landessozialgericht in Sachsen-Anhalt empört und wirft viele Fragen auf: Was ist eine Behinderung, welche Folgen hat der Grad der Behinderung und wie wird eigentlich darüber entschieden? 9 Fragen und Antworten rund um das Thema Behinderung mit dem Fachanwalt für Sozialrecht Patrick Inhestern.

123recht.de: Herr Inhestern, was für Behinderungen gibt es? Wie werden diese unterschieden?

Patrick Inhestern
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Sozialversicherungsrecht, Arbeitsrecht, Arbeitsrecht

Rechtsanwalt Inhestern: Nach der Definition des Gesetzgebers sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Man unterscheidet also zwischen körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung. Klare Grenzen lassen sich oft nicht ziehen. So kann beispielsweise ein Alkoholiker aufgrund der Suchterkrankung seelisch behindert sein, während die Leberzirrhose eine Körperbehinderung ist.

123recht.de: Wie wird der Grad der Behinderung festgestellt?

Rechtsanwalt Inhestern: Der Grad der Behinderung wird auf Antrag bei dem zuständigen Versorgungsamt festgestellt. Wichtig ist, dass in dem Antrag alle Erkrankungen angegeben werden, und dass dem Antrag aussagekräftige Atteste beigefügt sind. Aussagekräftig ist ein Attest dann, wenn es nicht nur die Erkrankung beim Namen nennt, sondern auch sagt, wie lange diese schon vorhanden ist und wie sie den Betroffenen beeinträchtigt. Das Versorgungsamt stellt dann in der Regel nach Aktenlage aufgrund einer Stellungnahme von eigenen Ärzten den Grad der Behinderung per Bescheid fest. Wer mit der Entscheidung nicht zufrieden ist, kann und sollte Widerspruch einlegen.

Schwerbehinderte erhalten zusätzliche Rechte im Arbeitsleben

123recht.de: Warum gibt es unterschiedliche Einstufungen? Wofür sind die wichtig?

Rechtsanwalt Inhestern: Die unterschiedlichen Grade der Behinderung (GdB) führen zu unterschiedlichen Ansprüchen auf Nachteilsausgleiche. Besondere Bedeutung hat dabei ein GdB von 50. Ab einem GdB von 50 gelten Menschen als schwerbehindert. Sie erhalten zusätzliche Rechte im Arbeitsleben wie beispielsweise Sonderkündigungsschutz und Zusatzurlaub. Schwerbehinderte können Altersrente abschlagsfrei zwei Jahre früher in Anspruch nehmen, Beamte können mit 60 in Pension gehen.

Es gibt zahlreiche weitere Nachteilsausgleiche. Ab einem GdB von 30 können Behinderte Gleichstellung beantragen. Das führt im Arbeitsleben dazu, dass Sonderkündigungsschutz wie bei einem Schwerbehinderten entsteht. Der Gesetzgeber gewährt zudem Steuerfreibeträge, die an die Höhe des GdB gekoppelt sind. Bei einem Gdb von 30 beträgt der Freibetrag 310,00 €, bei einem GdB von 100 sind es 1420,00 €.

123recht.de: Nur noch ein Bein zu haben reicht nicht aus, um auf Behindertenparkplätzen parken zu dürfen. Das hat das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt entschieden. Können Sie die Entscheidung nachvollziehen?

Rechtsanwalt Inhestern: Nein. Juristisch geht es da um das Mehrzeichen „aG" im Behindertenausweis und somit um eine "außergewöhnliche Gehbehinderung". Das sollen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes diejenigen bekommen, die sich außerhalb des Autos nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung bewegen können. Aus meiner Sicht trifft das auf diejenigen zu, die nur ein Bein haben. Ich befürworte daher eine weitere Fassung des Begriffs der außergewöhnlichen Gehbehinderung. Wäre der Kläger aus Sachsen-Anhalt mein Mandant gewesen, hätte ich ihm auch zu einer Klage geraten.

Verstöße gegen die Menschenwürde beseitigen

123recht.de: Den Menschen hier aufgrund seiner Behinderung in bestimmte Stufen einzuordnen - quasi zum Objekt degradieren - verstößt das nicht gegen die Menschenwürde?

Rechtsanwalt Inhestern: Die Entscheidungspraxis der Versorgungsämter und Behörden verstößt oft gegen die Menschenwürde. So vertrete ich beispielsweise eine junge Frau gegenüber dem Versorgungsamt im Streit um das Merkzeichen „H" in einem Klageverfahren. Bei ihr sind unstreitig eine spastische Bewegungsstörung, Intelligenzminderung, fokale Anfallsbereitschaft und eine ganz erhebliche Sehbehinderung vorhanden. Die Hilflosigkeit der Mandantin ist von zwei Ärzten attestiert worden. Dennoch kommt das Versorgungsamt zu einem anderen Ergebnis. Solche Verstöße gegen die Menschenwürde zu beseitigen, das ist die Aufgabe von Rechtsanwälten im Sozialrecht.

123recht.de: Zur Sinnesbehinderung gehört auch die Sehbehinderung. Nicht jede Sehschwäche ist aber eine Behinderung, sodass Brillen zumeist privat bezahlt werden müssen. Warum?

Charakteristisch für das Vorliegen einer Behinderung ist die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Nicht jede Sehschwäche führt aber zu einer solchen Teilhabebeeinträchtigung. Kosten für Brillen können daher nur erstattet werden, wenn die Sehschwäche ein solches Ausmaß erreicht hat, dass eine Beeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft vorliegt.

123recht.de: Es gibt die Barrierefreiheit, um Menschen mit Behinderung das Leben zu erleichtern. Was bedeutet das genau und wie wird diese umgesetzt? Gibt es gesetzliche Regelungen dazu?

Rechtsanwalt Inhestern: Barrierefreiheit ist in verschiedenen Lebensbereichen gegeben, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. Behörden sind verpflichtet, Barrierefreiheit zu gewähren, etwa durch Rampen und Fahrstühle. Im Wirtschaftsleben ist es Aufgabe von Behindertenverbänden, in Verhandlungen mit den Wirtschaftsverbänden der verschieden Branchen die Umsetzung der Barrierefreiheit voran zu treiben. Die gesetzliche Regelung hierzu ist das Behindertengleichstellungsgesetz.

123recht.de: Im Alltag haben Behinderte oft Probleme, nicht nur in privaten Räumlichkeiten, sondern auch auf öffentlichen Plätzen und Wegen. Welche Möglichkeiten haben Behinderte, sich hier entsprechend zu beschweren?

Rechtsanwalt Inhestern: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. So steht es im Grundgesetz. Das zu gewährleisten, ist Aufgabe des Behindertenbeauftragten. An diesen können sich behinderte Menschen wenden. Daneben besteht natürlich die Möglichkeit, sich an Behindertenverbände oder Rechtsanwälte zu wenden, um Gleichbehandlungsrechte vor Gericht durchzusetzen.

Entscheidungen des Versorgungsamtes zum GdB können oft korrigiert werden

123recht.de: Welche Fälle begegnen Ihnen oft im Kanzleialltag?

Rechtsanwalt Inhestern: Ich vertrete viele Eltern von behinderten Kindern: Hier gibt es immer Probleme. Gestritten wird um Hilfsmittel wie Pflegebetten, Walker und Thermocapes sowie Therapien aller Art und sonstige Rehamaßnahmen wie Schulhelfer.

Klassiker sind die Verfahren im Streit um den GdB. Hier ist den Betroffenen auch zu raten, sich gegen Entscheidungen des Versorgungsamtes zur Wehr zu setzen. Die Verfahren sind fast immer erfolgreich.

123recht.de: Herr Inhestern, vielen Dank!

Patrick Inhestern
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Sozialrecht

Rechtsanwaltskanzlei Tarneden & Inhestern
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30159 Hannover

Web: www.tarneden-inhestern.de
Mail: inhestern@tarneden-inhestern.de
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Fax : 0511/22062066
Leserkommentare
von Harzer63 am 07.06.2013 13:49:49# 1
Ich habe Ihren Beitrag mit großem Interesse gelesen.Ich kann Ihnen nur voll zustimmen. Leider verlassen sich die Versorgungsämter und Sozialgerichte allein auf die gutachterlichen Stellungnahmen sogenannter "Honorarärzte".Sobald man sich jedoch gegen diese Ärzte zur Wehr setzt, kommen diese mit Schmerzensgeldklagen, weil man ja deren fachliche Auskünfte anzweifelt.
Ich selber bin zur Zeit in einer solchen Lage. Ein Chirurg aus Hannover hat, nachdem er nur eine einzige Röntgenaufnahme von meiner Wirbelsäule gesehen hat, erklärt, so wörtlich" der Wirbelsäulenschaden hat sich nicht verschlimmert". Im Februar 2012 wurde bei einer MRT Untersuchung erstmalig festgestellt, das ich an einer Skoliose leide. In ca. 3 Jahren würde ich im Rollstuhl sitzen. Ende März hat dann dieser Arzt diese Erklärung abgegeben. Ich betone ausdrücklich, das dieser Arzt keine andere MRT oder Röntgenaufnahme gesehen hat. Seine Angaben vor dem Sozialgericht waren daher eine Lüge. Dafür möchte er jetzt von mir 500,- € Schmerzensgeld haben.
Zwischenzeitlich wurde ich von Herrn Prof. Dr. med. Hüfner vom Wirbelsäulenzentrum Hannover erfolgreich operiert. 4 Lendenwirbel wurden mit dem Kreuzbein versteift.
Da mein Prozess wegen Schmerzensgeld für diesen Arzt und das Verfahren vor dem Sozialgericht noch läuft, wurde ich von dem Lt. Medizinaldirektor und Amtsarzt Dr. med. Müller-Dechent untersucht. Das Ergebnis war, das er feststellte, das ich auf Grund meiner gesamten Behinderung einen Anspruch auf das Merkzeichen aG hätte. Das Sozialgericht hat dieses Gutachten nun schon 3 Monate, eine Entscheidung jedoch wurde bisher nicht getroffen.
Ich kann daher nur jedem raten, sich durch einen Anwalt vor dem Sozialgericht vertreten zu lassen. Wenn man es selber versucht, ist man aufgeschmissen.
Ich bin gern bereit, weitere nähere Angaben mit den nötigen Dokumenten zur Verfügung zu stellen, wenn Bedarf sein sollte. Die Sozialgerichte spielen mit der Zeit und hoffen, dan man vorher verstirbt.
Ich hoffe, mit diesen Angaben vielen Mut zum Widerstand gemacht zu haben.
bei bedarf: 0532103977929
    
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