Kindeswille und Kontinuität
Mehr zum Thema: Familienrecht, AufenthaltsbestimmungIn einem Verfahren zur elterlichen Sorge hatte das Oberlandesgericht Braunschweig entschieden, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind entsprechend der bestehenden familiengerichtlichen Regelung bei der Kindesmutter verbleiben sollte, obwohl der zum Zeitpunkt der Entscheidung elf Jahre alte Junge seinen Wunsch, zum Vater nach Berlin umzuziehen, über einen längeren Zeitraum hinweg allen Beteiligten gegenüber nachdrücklich bekundet hatte.
Das OLG führte zur Begründung aus, dass den Willensäußerungen des Kindes zwar mit zunehmendem Alter wichtige Bedeutung zukomme.
Unter Kontinuitätsgesichtspunkten seien aber zur Abänderung der bestehenden gerichtlichen Regelung besonders triftige Gründe erforderlich, die hier nicht vorlägen. Beide Eltern seien etwa gleich erziehungsgeeignet. Das Kind hatte zur Begründung seines Wechselwunsches angegeben, sein Vertrauen zur Mutter sei verloren gegangen, weil diese den letzten Umzug vor einem Jahr nicht mit ihm abgestimmt habe. Diese Begründung erschien dem OLG nach dem langen Zeitablauf seit diesem Ereignis nicht kindgerecht - der erklärte Wille des Kindes spiegele sich nicht in seinem Alltag, in dem sich das Kind in seinen schulischen Leistungen altersgerecht bis überdurchschnittlich entwickle. Es sei nicht sicher, ob der geäußerte Wille tatsächlich von einer stärkeren emotionalen Bindung zu einem Elternteil getragen werde, oder ob er von anderen Faktoren beeinflußt sei, wie etwa dem Wunsch nach mehr Ungebundenheit oder materieller Verwöhnung. Dabei könne der Kindeswille an Bedeutung verlieren, wenn er auf der Beeinflussung durch die Eltern beruhe.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 27. Juni 2008, 1 BvR (zu finden unter www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20080627_1bvr031108.html ), auf die Verfassungsbeschwerde des Kindesvaters den Beschluss des OLGs aufgehoben. Zur Begründung führt das Bundesverfassungsgericht aus:
„Nur dadurch, dass der wachsenden Fähigkeit eines Kindes zu eigener Willensbildung und selbständigem Handeln Rechnung getragen wird, kann das auch mit dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verfolgte Ziel, dass ein Kind sich durch Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann, erreicht werden. (.. .)
In allen Familienrechtsangelegenheiten gelte, dass es ein Wohl des Kindes gegen seinen Willen nicht gebe, wenn dieser Wille ausreichend formuliert werden könne und auf förderliche Bedingungen zurückgehe."
Die klar und konstant geäußerte Willensäußerung des Kindes ist als Ausdruck seiner mit zunehmendem Alter immer ernster zu nehmenden Selbstbestimmtheit zu berücksichtigen, auch wenn sie im Widerspruch zur bisherigen Kontinuität der Betreuung steht und gerade, wenn beide Eltern etwa gleich erziehungsgeeignet sind. Die Alternativen seien für das Kind inzwischen vorstellbar und einschätzbar.
Diese Entscheidung bedeutet, dass die Familiengerichte in Zukunft bei Kindern dieser Altersgruppe gegen den klar und nachhaltig geäußerten Kindeswunsch die bestehenden Betreuungsverhältnisse nur dann aufrechterhalten werden, wenn dafür nicht nur der Kontinuitätsgrundsatz, sondern auch andere ausdrücklich festgestellte Gesichtspunkte sprechen - etwa eine deutlich bessere Erziehungseignung des betreuenden Elternteils oder nachgewiesene Beeinflussung durch den anderen Elternteil.