Kippt die deutsche Rechtsprechung zum Abfindungsausschluss rentennaher Jahrgänge?

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Sachverhalt

Nach bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung in Deutschland können in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen (insbes. Sozialplänen) Regelungen zulässig sein, welche rentennahe Arbeitnehmer von der Zahlung einer Abfindung ausschließen oder deren Abfindungshöhe beschränken. Hintergrund dafür ist die Annahme, dass die rentennahen Jahrgänge ggf. nach Bezug von Arbeitslosengeld eine Rente beanspruchen können und damit wirtschaftlich besser abgesichert sind, als jüngere Kollegen. Diese Rechtsprechung könnte nun durch ein Urteil des EuGH vom 12.10.2010 (Az. C-499/08 - Ingeniørforeningen i Danmark, handelnd für Ole Andersen / Region Syddanmark) entscheidend geändert werden.

Geklagt hatte ein dänischer Arbeitnehmer, der nach 27-jähriger Beschäftigung im Alter von 63 Jahren entlassen wurde. Das dänische Recht gewährt Arbeitnehmern, die mindestens 12 Jahre bei demselben Arbeitgeber beschäftigt waren, eine besondere Entlassungsabfindung. Sofern die Arbeitnehmer jedoch zum Zeitpunkt ihrer Entlassung eine Altersrente aus einem betrieblichen Rentensystem beziehen können, wird diese Abfindung nicht gezahlt, selbst wenn der Arbeitnehmer weiter arbeiten möchte. Mit dieser Begründung wurde der Antrag des Arbeitnehmers auf Zahlung einer Entlassungsabfindung abgelehnt.

Der Arbeitnehmer, vertreten durch die Gewerkschaft Ingeniørforeningen i Danmark, erhob daraufhin Klage vor dem Vestre Landsret (Regionalobergericht West) mit der Begründung, er sei durch die fragliche Regelung wegen seines Alters diskriminiert worden. Das Vestre Landsret legte daraufhin dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor, ob die Regelung eine durch die Richtlinie 2000/78/EG verbotene Diskriminierung aufgrund alters darstelle.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH kam nun in seiner Entscheidung zu dem Ergebnis, dass die Regelung unmittelbar gegen das Verbot einer Diskriminierung wegen Alters verstoße und dieser Verstoß auch nicht gerechtfertigt sei.

Die Entlassungsabfindung verfolge das Ziel, den betroffenen langjährig beschäftigten Arbeitnehmern den Übergang in eine neue Beschäftigung zu erleichtern. Zudem solle die Regelung verhindern, dass die Abfindung mit der Altersrente kumuliert wird. Dies beruhe auf der Aussage, dass Personen, die Anspruch auf eine Altersrente haben, in der Regel aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Die somit bezweckte Hilfe zur Wiedereingliederung für Arbeitnehmer mit einer langen Betriebszugehörigkeit sei grundsätzlich ein rechtmäßiges Ziel im Bereich der Beschäftigungspolitik und des Arbeitsmarkts.

Jedoch sei die Regelung nicht verhältnismäßig, da sie über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels erforderlich sei. Denn sie schließe alle Arbeitnehmer von der Entlassungsabfindung aus, die Anspruch auf eine Altersrente ihres Arbeitgebers haben, unabhängig davon, ob sie diese tatsächlich ausüben und in Ruhestand gehen oder dem Arbeitsmarkt weiter zur Verfügung stehen wollen.

Im Ergebnis führe die Regelung also zu einer nicht gerechtfertigten Diskriminierung der betroffenen Arbeitnehmer wegen Alters und ist damit als Verstoß gegen die Richtlinie 2000/78/EG unwirksam.

Auswirkungen auf deutsches Recht:

Zwar handelt es sich um ein Urteil zu geltendem dänischen Recht, doch sind die Grundsätze der Entscheidung auch auf die deutsche Rechtslage anzuwenden. Nach diesem Urteil ist davon auszugehen, dass Arbeitnehmern, welche noch nicht Rente beziehen wollen, trotz bestehender Bezugsmöglichkeit Anspruch auf die Zahlung einer Entlassungsentschädigung haben, auch wenn Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung es anders regeln. Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf den Verhandlungsspielraum von Sozialpartnern im Rahmen von Sozialplänen. Es müsste daher zukünftig bei der Herausnahme von rentennahen Jahrgängen genauer geprüft werden, ob diese tatsächlich Rente in Anspruch nehmen können und werden und somit tatsächlich besser abgesichert sind als ihre jüngeren Kollegen. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesarbeitsgericht sich hierzu unter Berücksichtigung der aktuellen EuGH-Rechtsprechung baldmöglichst positionieren wird, um die bestehende Unsicherheit zu klären.