Whistleblowing - Was ist zulässig?

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Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 21.07.2011, Beschwerdenummer 28274/08

Arbeitnehmer, die feststellen müssen, dass ihr Arbeitgeber Straftaten begeht oder dies jedenfalls vermuten, befinden sich in einer unangenehmen Situation. Sollen sie den Mund halten, um ihren Arbeitsplatz zu schützen, oder sich an die Staatsanwaltschaft oder sogar die Presse wenden und ihren Arbeitgeber verpfeifen, neudeutsch „Whistleblowing“ genannt, auch wenn sie dies den Arbeitsplatz kosten könnte?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung vom 21.07.2011, Beschwerdenummer 28274/08 der Arbeitnehmerin Brigitte Heinisch den Rücken gestärkt und festgestellt, dass die deutschen Gerichte in ihr europarechtlich geschütztes Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen haben, als sie die fristlose Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses für wirksam erklärten.

Elke Scheibeler
Partner
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Fachanwältin für Arbeitsrecht
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Insolvenzrecht, Miet- und Pachtrecht, Kaufrecht, Vertragsrecht

Frau Heinisch war als Altenpflegerin in einem Pflegeheim der Vivantes Netzwerk für die Gesundheit GmbH (fortan kurz: Vivantes) tätig. In den Jahren 2003 und 2004 wies sie zusammen mit weiteren Kollegen darauf hin, dass sie überlastet sei und ihren Pflichten nicht angemessen nachkommen könne. In diesem Zeitraum erkrankte sie auch regelmäßig, laut einer ärztlichen Bescheinigung infolge der Arbeitsüberlastung. Auch der medizinische Dienst stellte 2003 bei einer Kontrolle des Altenheimes erhebliche Mängel bei der Pflege fest, u.a. fehlendes Personal und nicht eingehaltene Pflegestandards. In November 2004 wandte sich Frau Heinisch dann über ihren Anwalt schriftlich an die Arbeitgeberin und forderte eine Bestätigung, dass die Patienten zukünftig ausreichend versorgt werden. Nachdem diese abschlägig reagierte, stellte Frau Heinisch Strafanzeige wegen Betrugs mit der Begründung, die alten Menschen würden für Pflegeleistungen bezahlen, die sie in Wahrheit nicht erhielten, da die Pflegekräfte angehalten würden, nicht erbrachte Leistungen zu dokumentieren. Die Ermittlungen gegen die Arbeitgeberin wurden allerdings eingestellt.

Frau Heinisch wurde Anfang 2005 dann wegen ihrer häufigen Erkrankungen fristgemäß gekündigt. Danach verteilte sie zusammen mit Freunden und Unterstützung der Gewerkschaft Flugblätter, in denen sie die Kündigung als Folge ihres Einstehens für eine angemessene Altenpflege und der Strafanzeige, nicht aber als Folge ihrer Erkrankungen darstellte. Als Vivantes hiervon erfuhr, folgte die fristlose Kündigung. Diese wurde von Arbeitsgericht Berlin für unwirksam erklärt.

Das Landesarbeitsgericht Berlin hob diese Entscheidung am 28.03.2006, AZ 7 Sa 1884/05, jedoch auf und erklärte die Kündigung für wirksam. Die Klägerin habe die Anzeige, auf die die Arbeitgeberin sich in der zweiten Instanz im Wesentlichen berief, leichtfertig auf Tatsachen gestützt, die sie im Prozess nicht ausreichen belegen konnte. Als Arbeitnehmerin sei sie gegenüber Vivantes zur Rücksichtnahme verpflichtet. Bezüglich des Abrechnungsbetruges habe sie auch nicht versucht, eine innerbetriebliche Klärung herbeizuführen, sondern nur auf die unzureichende Pflegeleistung hingewiesen. Es sei Frau Heinisch darum gegangen, Aufsehen zu erregen, um Druck auf Vivantes in dem Prozess bezüglich der krankheitsbedingten Kündigung aufzubauen.

Frau Heinisch legte hiergegen Revision ein, die allerdings nicht zur Entscheidung angenommen wurde (BAG vom 06.06.2007, 4 AZN 487/06). Auch ihre Verfassungsbeschwerde wurde nicht angenommen. Gehör fand Frau Heinisch dann erst jetzt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser erkannte zwar, dass Vivantes die Kündigung ausgesprochen hatte, um seinen Ruf und seine Interessen zu schützen. Allerdings habe Frau Heinisch bereits in dem Anwaltsschreiben aus 2004 darauf hingewiesen, dass Leistungen nicht korrekt dokumentiert worden seien. Dort sei zwar nicht der Schluss gezogen worden, dass dies einen Betrug darstelle, was ja dann das Hauptargument der Strafanzeige war. Nach Auffassung des EGMR war dies aber nicht notwendig.

Außerdem lagen nach Auffassung des EGMR keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frau Heinisch wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hat. Ihre Bedenken wurden durch die Kritik des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen bestätigt. Dass die Ermittlungen aufgrund der Strafanzeige eingestellt wurden, spreche nicht gegen Frau Heinisch. Dies vorauszusehen könne von keinem Anzeigenden verlangt werden. Sie habe auch nicht, wie die Bundesregierung argumentierte, darauf vertrauen müssen, dass der Medizinische Dienst der Krankenkasse dafür sorgen würde, dass sich die Situation ändere. Die Äußerungen von Frau Heinisch hätten zwar eine schädigende Wirkung für Vivantes, die aber von dem öffentlichen Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege überwogen würden. Die deutschen Gerichte hätten somit keinen angemessenen Ausgleich zwischen dem Ruf von Vivantes und dem Recht auf freie Meinungsäußerung hergestellt und die Grundrechte von Frau Heinisch verletzt.

Die BRD muss Frau Heinisch nun EUR 10.000,00 für den erlittenen immateriellen Schaden und EUR 5.000,00 für entstandene Kosten zahlen. Das Urteil des LAG Berlin, das die Kündigung für wirksam erklärt, wird hiervon nicht berührt. Frau Heinisch kann allerdings Restitutionsklage gemäß § 580 Nr. 8 ZPO Restitutionsklage erheben und ihren Fall vor dem LAG Berlin neu verhandeln lassen und so noch erreichen, dass sie wieder eingestellt wird. Das Urteil des EGMR ist allerdings noch nicht rechtskräftig, innerhalb von drei Monaten nach Verkündung kann jede Partei noch die Verweisung der Sache an die Große Kammer des EGMR beantragen, und ein endgültiges Urteil erlangen.

Wenn man bedenkt, dass Frau Heinisch ihren Arbeitsplatz seit mehr als sechs Jahren nicht mehr inne hat und seitdem durch etliche Instanzen prozessieren musste, sind die EUR 10.000,00 „Schmerzensgeld“ eher ein schwacher Trost. Eine Fortführung des Arbeitsverhältnisses dürfte für beide Seiten aufgrund der langen Auseinandersetzungen auch eher spannungsgeladen und unerfreulich werden.

Für Arbeitnehmer, die sich aktuell in einer ähnlichen Situation befinden, bleibt folgende Lehre aus dem Fall zu ziehen: Zunächst müssen sie intern – soweit zumutbar - ihren Arbeitgeber auf den Missstand aufmerksam machen. Wenn sie sich dann für eine Strafanzeige entscheiden, sollte diese sorgfältig mit Beweisen untermauert sein. Der Arbeitnehmer muss sich überlegen, ob die Strafanzeige eine verhältnismäßige Reaktion ist und ob er berechtigte Interessen als Motivation für die Anzeige anführen kann. Jedenfalls muss klar sein, dass selbst bei einem positiven Ausgang von Strafanzeige und Kündigungsschutzprozess eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber schwierig ist. Aus diesem Grund ist jedem Arbeitnehmer zu empfehlen, sich in einer solchen Situation ausführlich anwaltlich beraten zu lassen.

Dr. Elke Scheibeler
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