Haftungsverteilung beim Auffahrunfall

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Von Rechtsanwalt Georg Calsow

Nach der alten Regel „wenn´s hinten kracht – gibt´s vorne Geld“ gehen die meisten Verkehrsteilnehmer davon aus, dass im Falle eines Auffahrunfalls der auffahrende Fahrzeugführer automatisch die Alleinschuld am Unfall trägt und demnach er bzw. sein Haftpflichtversicherer für sämtliche Kosten der Schadensbeseitigung einschließlich Schmerzensgeld aufzukommen hat.

Von einem Haftungsautomatismus in der genannten Weise kann indes keine Rede sein. Vielmehr hängt die Haftungsverteilung vom Einzelfall des Unfallhergangs sowie davon ab, ob die Unfallursache aufgeklärt, also bewiesen werden kann.

Als Beweiserleichterung dienen die Grundsätze zum Anscheinsbeweis. Diese können jedoch nur dann herangezogen werden, wenn sich unter Berücksichtigung aller unstreitigen oder festgestellten Einzelumstände ein für die zu beweisende Tatsache nach der Lebenserfahrung typischer Geschehensablauf ergibt. Danach spricht etwa bei Auffahrunfällen der erste Anschein für eine Verschulden des Auffahrenden. Diesen ersten Anschein kann der Auffahrende dadurch erschüttern, dass er einen atypischen Unfallverlauf darlegt und beweist .

Das Kammergericht (KG) in Berlin hatte im Jahr 2004 einen Fall zu entscheiden, bei dem das vorausfahrende Fahrzeug vor dem Unfall einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen hatte. Es ließ sich aber nicht aufklären, ob sich der Unfall in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Fahrsteifenwechsel ereignet hat. Der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs hatte behauptet, er habe bereits 30-40 Sekunden vor der Ampel gestanden, bevor es zum Unfall kam. Damit fehle es an einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Fahrstreifenwechsel und Unfall. Der Fahrer des auffahrenden Fahrzeugs hatte dies bestritten. Zeugen des Unfall gab es nicht. Das KG hat ein gleichsam salomonisches Urteil gesprochen und hat den Schaden zwischen den Parteien geteilt. Begründet hat es das Urteil wie folgt:

Im vorliegenden Fall konnte nicht davon ausgegangen werden, das der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs gegen seine Sorgfaltspflichten aus § 7 Abs.5 StVO verstoßen hat. Danach darf ein Fahrstreifenwechsel nur dann vorgenommen werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist und der Wechsel rechtzeitig und deutlich angezeigt worden ist. Ein dahingehender Anscheinsbeweis käme nicht in Betracht, da ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen Fahrsteifenwechsel und Unfall nicht nachgewiesen werden konnte.

Zu Lasten des auffahrenden Fahrers konnte nicht davon ausgegangen werden, dass er den Unfall verschuldet hat. Ein dahingehender Anscheinbeweis setze voraus, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander gefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können. Diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erwiesen.

Schmerzensgeld könne des Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs nicht beanspruchen, da von eine schuldhaften Unfallverursachung des auffahrenden Fahrers nicht ausgegangen werden kann.

Fazit: Derjenige, der mit seinem Fahrzeug auf ein vor ihm fahrendes Fahrzeug auffährt, trägt nicht automatisch die Alleinschuld. Er hat zumindest die Chance, dass er die Hälfte seines Schadens ersetzt bekommt und er bzw. sein Haftpflichtversicherer kein Schmerzensgeld zahlen muss.

Mit freundlichen Grüßen

Georg Calsow
Rechtsanwalt

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