Unsere Verantwortung ist das Mitgefühl

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Früher, sagt Bundespräsident Joachim Gauck, habe es eine gut begründete Zurückhaltung der Deutschen gegeben. Heute aber, so Gauck, sei Deutschland eine verlässliche Demokratie und ein Rechtsstaat. Für Menschenrechte müsse Deutschland die früher gebotene Zurückhaltung ablegen, mehr Verantwortung zeigen und auch vor Waffengewalt nicht kategorisch zurückschrecken. Der Bundespräsident fordert eine "aktivere" Rolle Deutschlands.

Unbestritten ist: Deutschland hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg bemüht, seine historische Schuld aufzuarbeiten. Joachim Gauck spricht aber nicht nur im Namen des Staates, sondern auch für seine Bürger. Er setzt voraus, wir Deutsche seien "verlässlich" und unterstellt damit, dass wir uns auch auf persönlicher Ebene von unserer geschichtlichen Vergangenheit geheilt hätten. Wie diese Heilung stattgefunden haben soll, verrät er nicht.

70 Jahre sind vergangen, also können wir jetzt Weltpolizisten sein, ganz unbefangen. Heilung durch Zeitablauf, oder Heilung durch präsidiale Verordnung von oben.

So funktioniert das nicht. Die Heilung eines Volks kann nicht verordnet werden. Sie muss von innen kommen, von den Bürgern selbst, von jedem einzelnen. Und viele dieser Bürger haben nicht ohne Grund Probleme damit, Kriege zu führen, insbesondere Kriege, die sie nicht verstehen.

Deutsche Soldaten sind bereits in 15 Einsatzgebieten weltweit im Waffeneinsatz. Wie "human" und "gerecht" diese Einsätze tatsächlich sind, weiß man als Bürger nicht. Dass die genannten Kriegsgründe selten den Tatsachen entsprechen, hat man im Irak-Krieg gesehen. Angesichts von Drohneneinsätzen und gezielten Tötungen, illegaler NSA-Spionage, verfassungswidriger Beteiligung deutscher Nachrichtendienste, Folter, Vergeltungsschlägen und nicht enden wollenden Gewaltspiralen verwundert es nicht nur ein wenig, wenn Joachim Gauck eine ablehnende Haltung der Bürger für nicht mehr zeitgemäß hält.

Was ist zeitgemäß, nur 70 Jahre nach Nazideutschland? 70 Jahre sind ein Wimpernschlag im Zeitgeschehen. Provokante Frage: Darf ich, als Nachkomme von deutschen Nazis, Mördern, Massenmördern, Fanatikern und Herstellern von Massenvernichtungswaffen heute öffentlich die israelische Politik, israelische Vergeltungsangriffe oder Waffenlieferungen an Israel kritisieren? Rein rechtlich darf ich das natürlich, denn es herrscht Meinungsfreiheit. Rein moralisch gehen die Meinungen bereits auseinander. Und rein real bekommt Günther Grass ein Einreiseverbot.

Wir sind Nachkommen von Täterfamilien - wir haben ein Recht auf Heilung und ja, wir sollten Verantwortung übernehmen. Ob diese aber darin besteht, mit Waffengewalt in regionalen Kriegen mitzumischen, darf man durchaus bezweifeln, insbesondere dann, wenn man das Gefühl bekommen muss, dass es bei den Kriegen mehr um Interessen, moderne Kolonialisierung und weniger um Verteidigung und Menschenrechte geht.

Wäre es als Deutscher und als deutsche Firma nicht konsequenter, gar keine Waffen mehr zu produzieren, geschweige denn, in alle Welt zu verkaufen? Ausbeutung anderer Länder zu unterlassen, Kriegsflüchtlinge human zu behandeln?

Wir sollten uns nicht mehr wegducken und wir dürfen uns selbstbewusst aufrichten - wenn wir die Hand reichen und Mitgefühl zeigen, ohne erhobenen Zeigefinger und Selbstgerechtigkeit. Uns das abgetötete Mitgefühl zurückzuholen, demütig sein - das ist unsere Verantwortung und wahre Größe. Nur so ist es möglich, aus dem Teufelskreis der Jahrtausende alten Gewaltspirale auszutreten.

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