Schulschwänzen - „Mir ist es wichtig, dass darüber öffentlich und ohne Schönfärberei diskutiert wird.“

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123recht.de Interview mit dem niedersächsischen Kultusminister Bernd Busemann (CDU) zum Problem des Schulschwänzens

123recht.de: Herr Busemann, sehen Sie einen ursächlichen Zusammenhang zwischen strafrechtlich relevantem Verhalten und Schulschwänzen?

Busemann: Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), die seinerzeit von Professor Christian Pfeiffer durchgeführt wurde, hat einen Zusammenhang zwischen Schulschwänzen und dem Abgleiten in Kriminalität festgestellt. Das heißt jetzt nicht, dass jeder Schwänzer auch kriminell wird. Aber das Gefährdungspotenzial ist größer. Darüber hinaus ist häufiges Schwänzen ein schwerwiegendes Hindernis bei der Erreichung von Bildungszielen bzw. Schul- und Ausbildungsabschlüssen. Schwänzer stellen sich auch selbst außerhalb der Klassen- und Schulgemeinschaft. Sie sind auch bei ihren Mitschülern nicht beliebt.

123recht.de: Warum wird geschwänzt? Gibt es Unterschiede an den verschiedenen Schulformen?

Busemann: Die Gründe für das Schulschwänzen sind vielfältig. Bei einer Befragung sind als Gründe zu 66% keine Lust auf Schule, zu 50% langweilige Fächer, zu 34% Klassenarbeit vermeiden, zu 27% mit Freunden unterwegs und zu geringeren %-Zahlen Probleme mit Mitschülern oder Lehrern angegeben worden. Das Hauptproblem von Absentismus liegt also vor allem in der fehlenden oder mangelhaften Schulmotivation von Kindern und Jugendlichen. Das Problem tritt in den verschiedenen Schulformen in unterschiedlicher Intensität auf. Berufs- und Hauptschulen sind davon in einem weit höherem Maße betroffen als Gymnasien. Das hat sicher auch mit einem gewissen Mangel an Zukunftsperspektiven der betroffenen jungen Leute zu tun.

123recht.de: Was hat die von Ihnen initiierte Bundestagung Absentismus ergeben?

Busemann: Die Tagung erbrachte eine sehr interessante Gesamtschau der Aktivitäten aller Bundesländer im Bereich des Absentismus. Alle 16 Bundesländer haben an der Tagung teilgenommen. Niedersachsen hat die Federführung bei einem EU-Projekt zum Thema Schulschwänzen mit acht europäischen Partnerländern. Die Berichte aus den einzelnen Ländern werden nun synoptisch zusammengefasst und können den Berichten der am EU-Projekt beteiligten europäischen Länder als Vorlage dienen. Zurzeit arbeitet das Niedersächsische Landesamt für Lehrerbildung und Schulentwicklung (NiLS) an einer Tagungsdokumentation, die im Juni veröffentlicht werden soll und allen Bundesländern und eingebundenen Institutionen, wie z. B. der Kultusministerkonferenz zur Verfügung gestellt wird. Gestärkt worden ist auch der Netzwerkgedanke, d. h. die Fachressorts in den Bundesländern wollen enger zusammenarbeiten und sich teilweise an dem von Niedersachsen koordinierten Programm "Konzepte, Strategien und Materialien gegen schulvermeidendes Verhalten" beteiligen. Absentismus ist in allen Ländern gleichermaßen ein Problem.

123recht.de: Welche Konzepte gibt es bereits, Schüler vom Schwänzen abzuhalten?

Busemann: Kinder und Jugendliche brauchen Zuwendung. Sie müssen spüren, dass wir uns um sie kümmern. Auch die Elternhäuser tragen Verantwortung. Zusammenarbeit und gegenseitige Information zwischen Eltern und Schule sind ganz besonders wichtig. Dazu gehören zum Beispiel verbindliche Vereinbarungen zwischen Schulen und den Erziehungsberechtigten, sowie eine genaue Erfassung von Fehlzeiten. In fast allen bestehenden Konzepten geht es im Kern immer um die zeitnahe Kontaktaufnahme mit den Erziehungsberechtigten und um das Ansprechen der Schwänzer. In einem weiteren Sinne dann um Qualitätsverbesserung von Schule. Im neuen niedersächsischen Schulgesetz ist der wichtige Dialog der Schule mit den Erziehungsberechtigten auch zur schulischen Entwicklung eines Kindes ausdrücklich aufgenommen worden, um Probleme frühzeitig erkennen und gemeinsam bewältigen zu können. Schon in Kürze wird es individuelle Förderpläne für jedes Kind geben, die dann auch Hinweise geben. Wir bauen das Ganztagsangebot aus. Wir setzen auf die Unterstützung und Begleitung der schulischen Arbeit durch Sozialarbeit in den Hauptschulen. Die berufliche Orientierung und der verstärkte Praxisbezug gerade in dieser Schulform werden auch zu einer besseren Motivation der Schülerinnen und Schüler beitragen. Für alle Schulformen gilt: Mit gutem Unterricht und begabungsgerechtem Fördern und Fordern kommt weniger Frust und Langeweile auf.

123recht.de: Funktioniert die Zusammenarbeit von Polizei, Schule und Erziehungsberechtigten?

Busemann: Die Zusammenarbeit hat in in vielen Bereichen schon länger gut funktioniert. Im vergangenen Jahr haben wir dann in einem gemeinsamen Erlass von Kultusministerium, Innenministerium und Justizministerium den Informationsaustausch und die enge Zusammenarbeit nochmals betont und mit verbindlichen Regeln verfestigt. Damit haben alle Beteiligten eine klare Handlungsrichtlinie und mehr Rechtssicherheit. Gerade bei den jüngsten Gewaltvorfällen an Schulen hat sich gezeigt, dass dieser Erlass greift und sich bewährt.

123recht.de: Was genau unternimmt die Polizei?

Busemann: Neben ihren gesetzlichen Aufgaben sucht die Polizei den "normalen" Kontakt zu den Schulen bereits im Vorfeld von irgendwelchen Taten. Die Polizei benennt ebenso wie die Schule feste Ansprechpartner, die den Schulleitungen als Berater zur Seite stehen.Schule und Polizei tauschen sich über Gefahrenpotenziale aus. Die Polizei ist auch bei Informationsveranstaltungen der Schule präsent und wird in den Unterricht zu speziellen Themen eingeladen. Bezogen auf die Schwänzer sucht die Polizei bei ihren Streifengängen bekannte Aufenthaltsorten von Kindern und Jugendlichen zur eigentlichen Unterrichtszeit auf. Werden dort Schülerinnen oder Schüler angetroffen, sprechen die Polizeibeamten sie an und führen ein normenverdeutlichendes Gespräch.

123recht.de: Was ist für die Zukunft geplant?

Busemann: Damit der bundesweite Dialog zur Bekämpfung von Absentismus nicht abreißt, haben wir zu einer Nachfolgeveranstaltung der ersten Tagung eingeladen. Sie wird wahrscheinlich am Ende dieses Jahres stattfinden, nachdem die Synopse der 20 beteiligten Länder zu Ideen, Konzepten und Maßnahmen vorliegt. Durch den länderübergreifenden Erfahrungsaustausch und die gezielte Erprobung neuer Präventionsmodelle in den unterschiedlichen Bundesländern sowie den beteiligten europäischen Ländern hoffen wir, für die überall bekannten Probleme gemeinsam Lösungen zu finden. Gemeinsam lassen sich die besten Rezepte gegen das Schulschwänzen herausfinden und zu einem Konzept bündeln. Unser Ziel ist ein abgestimmtes Präventionskonzept mit den anderen Ministerien und in Zusammenarbeit mit dem Landespräventionsrat.

123recht.de: Was halten Sie etwa von Vorschlägen, die Ausgangssperren für Jugendliche in den späten Abendstunden vorsehen?

Busemann: Solche Vorschläge sind eher kurzatmiger Aktionismus. Das bringt uns nicht weiter. Es kann nicht darum gehen, die Schülerinnen und Schüler oder die Eltern zu brandmarken oder gar zu kriminalisieren. Die Schule sollte für die Kinder und Jugendlichen ein Ort der Verlässlichkeit, des Vertrauens und der sozialen Stabilität sein. Diese Notwendigkeit zeigt gerade auch die aktuelle Debatte um die Gewalt an Schulen. Verlässlichkeit und Stabilität ist aber nur dann gewährleistet, wenn auf unentschuldigte Abwesenheit auch konsequent und unmittelbar reagiert wird.

123recht.de: Von verschiedenen Seiten wird die Auffassung vertreten, Ganztagsschulen könnten die Jugendlichen abhalten, strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Ist das auch Ihrer Meinung nach ein möglicher Ansatz? Gibt es Bestrebungen, das Angebot von Ganztagsschulen auszuweiten?

Busemann: Richtig ist: Solange die Schüler in der Schule sind, können sie woanders keine Straftaten begehen. Ganztagsschulen sind sinnvoll, aber kein Allheilmittel. Keine schlechte Schule wird schon dadurch besser, dass sie bis in den Nachmittag ausgedehnt wird. Ganztagsschulen geben aber die Möglichkeit, die Schüler bis in den Nachmittag hinein sinnvoll zu beschäftigen und ihnen neben dem Unterricht auch Alternativen zu Fernsehen, Video oder Computerspielen aufzuzeigen. Auch Themen wie Gewalt und Gewaltprävention können an Schulen durchaus auch im Nachmittagsangebot behandelt werden. Umfang und Inhalt von freiwilligen Nachmittagsangeboten sind aber an einem vor Ort zu erarbeitenden pädagogischen Konzept auszurichten. Wir legen Wert auf Qualität und helfen durch Hinweise und Vorschläge.

123recht.de: Lebt es sich an deutschen Schulen gefährlich?

Busemann: Statistisch gesehen ist die Schule ein sicherer Ort. Schülerinnen und Schüler verbringen dort gemeinsam mit den Lehrkräften einen großen Teil ihrer Zeit. Sie lernen und arbeiten dort überwiegend friedlich und harmonisch miteinander. Die Schule ist aber auch ein Teil unserer Gesellschaft und spiegelt insofern auch gesellschaftliche Entwicklungen wieder. Deshalb dürfen wir nicht darüber hinweg sehen, dass es in Einzelfällen auch an Schulen immer wieder zu Gewalt kommt. Da ist Hinschauen statt Wegschauen gefordert. Wir dürfen vor der Gewalt weder in unserer Gesellschaft noch an den Schulen kapitulieren. Stattdessen müssen wir das Problem offensiv auf allen Ebenen angehen.

123recht.de: Müssen Lehrer künftig anders geschult werden?

Busemann: Grundsätzlich sind Lehrerinnen und Lehrer hochqualifizierte pädagogische Fachkräfte, die das ihnen zur Verfügung stehende Instrumentarium auch beim Erziehungsauftrag der Schule einzusetzen wissen. Es hat sich gezeigt, dass die Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte insbesondere in der Hauptschule und in den berufsbildenden Schulen sehr wichtig sein kann. Prävention und eine bessere Vorbereitung auf die Praxis in der Schule sollten aber generell in der Ausbildung von Lehrkräften stärker berücksichtigt werden.

123recht.de: Wie schätzen Sie die Situation ein: Gibt es überhaupt akuten Handlungsbedarf oder bauscht das mediale Interesse das Problem auf?

Busemann: Mir ist es wichtig, dass darüber öffentlich und ohne Schönfärberei diskutiert wird. Wir können nicht immer alles mit dem Mantel der Liebe zudecken nach dem Motto: Es wird schon keiner merken und dann lösen wir das intern. Gefordert ist aber auch das Vorbildverhalten der Erwachsenen. Wer zum Beispiel schon vor Ferienbeginn mit den Kindern in den Urlaub fährt und sie in der Schule fälschlich wegen Krankheit entschuldigt, vermittelt ihnen, das Schwänzen sei ganz normal und üblich. Die Schulpflicht ist gesetzlich geregelt. Wird sie verletzt, kann das mit Ordnungsgeld geahndet werden. Davor steht aber immer das Gespräch, die pädagogischen und sozialpädagogischen Mittel. Gegen Gewalt und Straftaten an Schulen kann es keine Toleranz geben. In solchen Fällen gibt es immer akuten Handlungsbedarf. Das regelt auch der schon erwähnte gemeinsame Erlass mit dem Innen- und dem Justizministerium. Wenn dann jede Schule für sich ein individuelles, auf die eigene Situation bezogenes Sicherheitskonzept erstellt, erkennt sie auch die Gefährdungspotenziale in ihrem Bereich und kann gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern vor Ort vorbeugend eingreifen. Einen entsprechenden Erlass bringen wir gerade auf den Weg.

123recht.de: Herr Busemann, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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