Eine deutsche Familie

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Von der Bücherverbrennung bis zum NSU-Prozess - wir stecken noch mittendrin.

Ich war Erstklässler, als meine Eltern mir erzählten, dass es noch ein anderes Deutschland gibt. Ein Land neben unserem, in denen die Menschen hinter einer Mauer leben und nicht raus dürfen. Ich war entsetzt. Wieso sollten Menschen so etwas tun? Wieso sollte man eine Mauer um ein Land ziehen und die Einwohner nicht raus lassen? Wieso lassen die Menschen sich das gefallen? Es war mir unbegreiflich, warum Erwachsene so etwas tun können.

Später erfuhr ich, wie die DDR entstanden war, und natürlich von der Zeit davor. In der Schule, insbesondere in der Oberstufe, waren der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg ein Dauerthema. Gerne hätte ich meine Opas gefragt, wie es war, als Soldat, welche Rolle sie spielten. Aber keiner meiner Großväter hat den Krieg überlebt. Auf die Idee, meine Omas über die Zeit zu fragen, bin ich nicht gekommen.

So oft wir das dritte Reich auch in der Schule behandelt hatten, in der Familie wurde es nur angedeutet. Nein, Opa war kein Nazi. Er war nicht in der Partei. Ja, er war Soldat, aber so war es eben damals.

Ehrliche Antworten bekam ich dann doch noch, aus einer unvorhergesehenen Quelle: von meinem gefallenem Großvater selbst. Nach dem Tod ihrer Mutter fand meine Mutter die Feldpostbriefe ihres Vaters.

Ich las jeden einzelnen davon, vom ersten 1939 bis zum letzten, März 1945. Es begann in Frankreich, als mein Opa mit seiner Einheit immer der Front hinterherlief und zur Bestürzung der Kompanie während des gesamten Frankreichfeldzuges kaum an Kämpfen beteiligt war. Platzpatronenkompanie nannten sie sich, fibertem ihrem ersten Einsatz entgegen.

Als mein Opa meiner Oma in einem der ersten Briefe seine Liebe erklärte - "Ich habe dich unendlich lieb" - bekam ich einen Kloß im Hals. Ich hatte erwartet, ein geschichtliches Zeitzeugnis aus dem zweiten Weltkrieg in den Händen zu halten, Andeutungen über den Frontverlauf, Soldatenalltag, Kampfgeschehen. "Geschichtliches" eben. Schulwissen aus erster Hand. Privates, Vertrauliches, Menschliches, eine Liebesgeschichte gar - damit hatte ich nicht gerechnet.

Das war mir zu persönlich.

Dafür war ich nicht bereit. Durfte ich das überhaupt? Ging mich das etwas an?

Ich lies den Brief sinken, zweifelte kurz, las dann doch weiter. Ja, es ging mich etwas an. Das ist es, wo ich herkomme. Das ist meine Familie. Wenn die Taten mich etwas angehen, dann auch die Liebe.

Das erste Treffen nach der Liebeserklärung im Heimaturlaub. Eine zarte Liebe, die sich langsam entfaltet, größer wird. Immer Persönlicheres wird preisgegeben. Liebe, Religion, Literatur, Politik. Kalligrafie und Malerei. Und dann: Begeisterung über Hitler. Erster Verdacht: Mein Opa war nicht einfach nur ein Soldat der Wehrmacht, Befehlsempfänger. Mein Opa war Befürworter.

Die erste Feuertaufe, das erste echte Gefecht. Opas Stolz, Opas Erleichterung.

Verlegung an die Ostgrenze. Russland. Die gegnerischen Einheiten werden überrannt. Von Platzpatronen kann längst keine Rede mehr sein.

Einzelne Buchstaben in den Briefen sind unterstrichen und ergeben die Orte, die mein Großvater im Frontverlauf passiert. Ich lese abfällige Bemerkung über Russen, Slawen, Juden, Untermenschen, Rückständigkeit. Der Verdacht ist keiner mehr: Mein Opa hatte die nationalsozialistische Propaganda verinnerlicht.

Der harte Winter.

Kriegshochzeit. Meine Großeltern heiraten.

Zurück an die Front. In einem Zug sitzt mein Opa mit zwei SS-Soldaten in einem Abteil. Er beneidet sie um ihre Nähe zum Führer.

Stalingrad. Mein Opa ist mittlerweile Unteroffizier und führt seinen eigenen Trupp. Angriff auf den Bahnhof, Verwundung am Oberarm. Mit einem der letzten Flugzeuge wird er aus dem Kessel ausgeflogen.

Lazarett in Deutschland. Die Wunde riecht wie "zehn tote Russen". Anfang 1944 wird meine Mutter geboren. Es gibt ein Bild, wie er sie glücklich in den Armen hält und dem Fotografen präsentiert. Nur eins.

Mein Opa geht freiwillig zurück an die Ostfront. Ich lese Erklärungsversuche über etwas, das ich kaum begreifen konnte. Wie kann man seine Frau und sein Neugeborenes zurücklassen? Die Antworten sind vage: Kameraden nicht im Stich lassen, für das Vaterland, Endsieg.

Rückzug, Rückzug, Rückzug. Der letzte Brief ist von Ende März 1945.

Vermisst.

Meine Oma hat nie wieder geheiratet. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt jemals wieder einen Mann hatte. "Es gab ja kaum noch welche", sagte meine Mutter.

Vor den Feldpostbriefen wusste ich über meinen Opa nur, dass ich "ihm sehr ähnlich bin", dass er ein sehr guter Zeichner und Kalligraph war und in Russland gefallen ist. Mehr nicht. Als ich seine Geschichte kennenlernte, habe ich den Satz "Wie konntest Du nur Deine Familie im Stich lassen" lange Zeit mit mir rumgetragen. Wie konntest Du dafür sein?

Unbewusst habe ich ihn verurteilt. Der Film "Das Weiße Band" hat mir geholfen, das Geschehene besser annehmen zu können. Diese Generation von Kindern, über die der Film erzählt, in dieser Gesellschaftsstruktur - das ist die Generation meiner Großeltern. Es verwundert nicht, dass diese Generation später glühende Nationalsozialisten, Täter, Mitläufer und Weggucker wurden. Und meine Familie mittendrin.

Dann kam der Film "Unsere Mütter, unsere Väter". Ich stelle mir meinen Opa wie eine Symbiose der beiden Brüder vor. Negative Gefühle ihm gegenüber habe ich nicht mehr. Er war Soldat der Wehrmacht, Täter und Nationalsozialist - aber er ist auch mein Großvater. Meinen Großvater, den Menschen, hätte ich gerne in den Arm genommen.

Über die Rollen unserer Ahnen haben wir nie groß geredet in meiner Familie. Schöne und positive Eigenschaften der Kriegsgeneration wurden hervorgehoben - guter Maler, begnadeter Mathematiker, kriegswichtige Forschung, angesehener Arzt - und die negativen ausgeblendet: Das war damals halt so.

Und die Opfer? Eine abstrakte Zahl, mit der wir nichts zu tun hatten.

Wenn die Traumas zu groß sind, blenden wir sie aus. Unsere Großeltern haben nicht geredet, deren Kinder ebenfalls nicht. Sie hatten ihre Gründe.

Ich bin nach dem Kniefall von Warschau geboren. In meiner Generation wurde der Nationalsozialismus in der Schule "zerlegt". Viele Fragen taten sich auf: Welche Rolle hat meine Familie gespielt? Antworten gab es kaum. Wir fühlten uns entweder latent schuldig, sind mit angezogener Handbremse durchs Leben gelaufen, oder wir haben alles von uns gewiesen: Das ist vor unserer Zeit passiert.

Am 10. Mai 1933 wurden in ganz Deutschland Bücher verbrannt. Viele jüdische Autoren waren dabei. 80 Jahre später, hier und jetzt, beginnt in Deutschland der NSU-Prozess, einer der bedeutendsten Prozesse unserer Zeit. Eine rechtsextreme Terrorzelle mordete sich jahrelang durch Deutschland. Wieder viele Fragen.

Wie konnte das passieren, welche Rolle spielte der Verfassungsschutz? Wurde weggeschaut? Was stand in den Akten, die "aus Versehen" vernichtet wurden? Darf eine mutmaßliche Täterin sich so vor Gericht präsentieren? Müssen ausländischen Medienvertretern Plätze bei der Verhandlung garantiert werden? Werden die Angeklagten reden? Dürfen die Verteidiger sich so profilieren und mit der Angeklagten wie mit einer guten Freundin umgehen?

Was sagt die Farce um die Medienplätze, die Äußerungen des Gerichts, über das heutige Deutschland aus?

Der 10. Mai 1933 und der 10. Mai 2013. Wieviel "Großeltern" steckt noch in uns? Welcher Stasi-Mitarbeiter hat die persönliche Verantwortung für seine Taten übernommen? Welcher Mauerschütze? Welcher Nationalsozialist hat eine führende Rolle in der Bundesrepublik gespielt und nie über seine Vergangenheit geredet - sich nie wirklich geändert?

Wie viele haben so weitergemacht wie der Onkel meiner Mutter, der "kriegswichtige Forschung" betrieben und nach dem Krieg Kampfflugzeuge für eine amerikanische Rüstungsfirma entwickelt hat?

Wieviele schauen einfach weg, wenn etwas passiert? Wieviele wollen nicht genau wissen, was passiert?

Die Liebe meiner Großeltern geht mich etwas an, denn daraus bin ich entstanden. Aber wir können uns nicht nur die Rosinen rauspicken. Wir machen einen Fehler, wenn wir als folgende Generationen glauben, dass wir mit dem Vergangenem nichts mehr zu tun haben. Wir tragen zwar keine Schuld, aber die Traumas unserer Ahnen in uns.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie bleibt einfach immer gleich. Denn den eigenen, persönlichen Kniefall haben die wenigsten Familien bislang gemacht.

Leserkommentare
von tierschützerin am 17.05.2013 12:41:45# 1
Dieser Beitrag sollte in allen überregionalen Zeitungen unseres Landes abgedruckt werden! Die Verfasserin erbringt einmal mehr den Beweis, daß wir alle - obwohl der ''Gnade der späten Geburt'' teilhaftig - in einer Kollektivschuld gefangen sind, eine Erbsünde abzutragen haben und mit allen Mitteln dafür sorgen müssen, daß sich die braune Pest in unserem Land und in der Welt nicht wieder ausbreiten kann. Was gibt Beate Tschäpe das Recht, mit dieser Chuzpe aufzutreten? Wohl nur die Gewissheit, genügend Unterstützer im Hintergrund zu haben. Wann wacht der Verfassungsschutz endlich auf?
    
von 123recht.de am 06.06.2013 12:19:13# 2
Danke schön für den Kommentar! "Die Verfasserin" ist allerdings männlich :-)
    
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