Der Brexit - was sind die Folgen?

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Reisefreiheit, Arbeitsgenehmigung, Erasmus, Limited - Was ändert sich für deutsche und andere europäische Bürger durch Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union?

Großbritannien war jahrelang der Rebell unter den Mitgliedstaaten. Auf der einen Seite für ihre pragmatische Arbeitsweise geschätzt, auf der anderen Seite für ihre Extrawürste verteufelt, konnte die EU trotz Briten-Rabatt und anderer Vorteile die Skepsis der Briten nicht abbauen. Nach einem sehr emotionalen Wahlkampf wurde per Referendum für einen Austritt aus der EU gestimmt. 123recht.de spricht mit Rechtsanwalt Alexander Nadiraschwili, LL.M. darüber, welche Folgen der Austritt haben könnte.

Nach dem Austritt ist wieder ein Visum nötig, um in Großbritannien leben und arbeiten zu können

123recht.de: Herr Nadiraschwili, was müssen deutsche und andere europäische Arbeitnehmer, die in England arbeiten bzw. arbeiten wollen, nun wissen? Wird zukünftig ein Visum benötigt?

Alexander Nadiraschwili
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seit 2013
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Fachanwalt für Steuerrecht
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10789 Berlin
Tel: 030 48625802
Web: http://www.nadiraschwili.de
E-Mail:
Aufenthaltsrecht, Erbrecht, Vertragsrecht, Kaufrecht

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Solange der Brexit noch nicht vollzogen ist, gilt auch in Großbritannien weiterhin das Freizügigkeitsrecht für alle Unionsbürger. Alle Bürger der EU haben in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Recht auf Freizügigkeit, also auf Ausreise aus ihrem Herkunftsmitgliedstaat und auf Einreise und Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, wenn sie im Aufnahmemitgliedstaat als Arbeitnehmer oder Selbstständige im Wirtschaftsleben erwerbstätig oder auf Arbeitssuche sind. Wenn Großbritannien jedoch aus der EU austritt, entfällt neben vielen anderen Regelungen auch das Freizügigkeitsrecht und alle Deutschen (und andere EU-Bürger) werden ein Visum benötigen, um in Großbritannien leben und arbeiten zu können.

123recht.de: Was ist mit Engländern, die derzeit in Deutschland arbeiten?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Für Briten in Deutschland gilt genau das selbe umgekehrt, d.h. auch sie genießen als EU-Bürger das Freizügigkeitsrecht, was nach einem EU-Austritt nicht mehr der Fall wäre. Danach würden Sie zumindest für einen längerfristigen Aufenthalt in Deutschland ein Visum benötigen.

Auch Studenten benötigen nach dem Austritt zukünftig ein Studentenvisum

123recht.de: Welche Folgen drohen für Studenten?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Auch Studenten - sowohl britische Studenten die in einem EU-Land studieren wollen als auch deutsche Studenten oder Studenten aus anderen EU-Ländern, die in Großbritannien studieren wollen - würden im Falle eines EU Austritts von Großbritannien zukünftig ein Visum für ihren Studienaufenthalt benötigen. Studentenvisa beinhalten meist nur eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis. Internationale Studierende, die nicht aus der EU oder dem EWR kommen, dürfen in Deutschland 120 volle oder 240 halbe Tage im Jahr arbeiten. Wenn sie mehr als 120 volle oder 240 halbe Tage arbeiten wollen, brauchen sie die Zustimmung der Agentur für Arbeit und der Ausländerbehörde. Auch dürfen internationale Studierende, die nicht aus der EU kommen, sich nicht selbstständig machen oder freiberuflich arbeiten. Auch andersherum wird es für deutsche Studenten in Großbritannien ähnliche Einschränkungen geben, insbesondere was den Zugang zum britischen Arbeitsmarkt angeht.

123recht.de: Wird es zukünftig das Studenten-Austauschprogramm Erasmus mit Großbritannien weiterhin geben?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Dass ist im Moment fraglich. Zwar nehmen bereits neben den 28 Mitgliedsstaaten der EU fünf weitere europäische Länder (Norwegen, Island, Liechtenstein, Schweiz, Türkei) an dem Erasmus-Programm teil, ob jedoch Großbritannien nach dem EU Austritt an dem Programm teilnehmen wird, ist nicht absehbar. Eine "automatische Fortsetzung" des Erasmus-Programms mit Großbritannien wird es nach dem EU-Austritt aber höchstwahrscheinlich nicht geben. Eine eventuelle Aufnahme Großbritanniens als nicht EU-Land würde zunächst neu verhandelt werden müssen.

Durch den Austritt werden sich Preise für Waren aus Großbritannien teilweise spürbar erhöhen

123recht.de: Onlinehandel ist sehr beliebt, wird sich durch den Brexit etwas ändern, wenn man Kunde bei einer englischen Plattform ist?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Neben dem Wegfall der Freizügigkeit wäre Großbritannien nach einem EU-Austritt auch nicht mehr Teil des europäischen Binnenmarkts. Diese hätte nicht unerhebliche Folgen für Kunden englischer Onlinehandelsplattformen. Ein wesentlicher Bestandteil des Binnenmarkts ist der unbeschränkte Handel zwischen den Mitgliedsstaaten sowie der freie Kapital- und Zahlungsverkehr. Nach einem EU-Austritt würden für Waren aus Großbritannien die EU-Zollbestimmungen gelten, d.h. eingeführte Waren müssten verzollt werden. Dadurch dürften sich die Preise für Waren aus Großbritannien teilweise spürbar erhöhen. Ob dies durch die Abwertung des britischen Pfunds kompensiert wird, bleibt abzuwarten.

123recht.de: Werden zukünftig beim Handel also wieder grundsätzlich Zölle und Einfuhrumsatzsteuer fällig?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Ja, das wird die Folge des EU-Austritts und dem damit verbundenen Ausscheiden aus dem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt sein. Für Großbritannien bliebe eventuell die "Norwegische Lösung", wenn Großbritannien zwar aus der EU ausscheidet, jedoch Mitglied im europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bleibt, dann würden die Regelungen des Binnenmarkts weiterhin wirksam bleiben. Ob dies jedoch gelingt, wird sich erst während der Austrittverhandlungen zeigen.

Durch den Brexit droht der englischen Limited die gleiche Behandlung wie einer GbR oder oHG

123recht.de: Hat der Brexit Auswirkungen auf die beliebte englische Limited?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Der Austritt Großbritanniens aus der EU würde gravierende Folgen für die englischen "Limiteds" in Deutschland haben, da dann auch die Niederlassungsfreiheit für britische Unternehmen in der EU nicht mehr gelten würde. Unternehmen der EU dürfen in allen Mitgliedstaaten der EU Vertretungen gründen. Der EU-Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass eine nach britischem Recht gegründete Gesellschaft auch in Deutschland anerkannt werden muss.

Für "Limiteds" in Deutschland gelten die gesellschaftsrechtlichen Regeln Großbritanniens, auch wenn sie ihren Sitz z.B. in Berlin haben. Die Gesellschaftsform der "Limited" würde nach einem Brexit nicht mehr ohne Weiteres in Deutschland anerkannt werden. Ohne diese Anerkennung würden die "Limiteds" aber wie eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) oder offene Handelsgesellschaft (oHG) behandelt werden, da sie die strengeren Vorgaben für eine GmbH nicht erfüllen. Das hieße: Die Gesellschafter müssten persönlich für die Verbindlichkeiten des Unternehmens haften.

Ob dies tatsächlich so kommt, hängt vom Verhandlungsergebnis der Austrittverhandlungen ab. Wenn Großbritannien Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bleibt oder Verträge mit den EU-Staaten aushandelt, die die Niederlassungsfreiheit weiterhin gewähren, könnten die "Limiteds" in Deutschland anerkannt bleiben.

123recht.de: All reden davon, dass man den Finanzplatz London nun vergessen kann. Stimmt das? Und was ist mit Geldanlagen in England? Sind diese sicher oder sollte man seine Anlagen kündigen?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Die Entwicklung des Finanzplatzes London lässt sich nur schwer vorhersagen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass seine Bedeutung für den europäischen Markt sinken wird, wenn London außerhalb der EU liegt, mit Sicherheit wird London als Finanzplatz aber nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Geldanlagen in Großbritannien dürften auch weiterhin als sicher angesehen werden, auch wenn die EU-Einlagensicherung dann nicht mehr direkt gilt. Es wird jedoch für derartige Anlagen ein erhöhtes Wechselkursrisiko bestehen, da mit einer weiteren Abwertung des britischen Pfunds zu rechnen sein wird.

Waren und Dienstleistungen in Großbritannien werden für Reisende auf Grund des günstigen Wechselkurses billiger

123recht.de: Welche Folgen hat der massive Kursverlust des englischen Pfund z.b für Reisende?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Die aktuellen Kursverluste des britischen Pfund sind für Reisende aus dem Euroraum von Vorteil, da das schwache Pfund Waren und Dienstleistungen in Großbritannien auf Grund des günstigen Wechselkurses billiger macht.

123recht.de: Der britische Finanzminister hat bereits Steuererhöhungen angekündigt, droht uns das in Deutschland auch?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Ob es in Deutschland tatsächlich zu Steuererhöhungen im Zusammenhang mit dem Breit kommen wird, ist zur Zeit nicht absehbar.

Der Austritt kann noch abgewendet werden, da das Referendum für Regierung und Parlament nicht bindend ist

123recht.de: Gibt es eine Möglichkeit, den Brexit noch abzuwenden?

Rechtsanwalt Nadiraschwili: Die Antwort darauf lautet ganz klar ja: Rechtlich gesehen ist dies auf jeden Fall möglich, da das Referendum für die Regierung und das Parlament in Großbritannien nicht bindend ist. Den EU-Austritt, d.h. das Verfahren nach Art. 50 des EU-Vertrags, muss die britische Regierung bei der EU beantragen. Auch das britische Parlament muss dem zustimmen. In der aktuellen Konstellation nach dem Rücktritt von Premierminister David Cameron ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die neue britische Regierung sich im Herbst gegen das Ergebnis des Referendums stellt. Wenn es jedoch zum Beispiel zu Neuwahlen käme und eine pro-europäische Regierung gewählt werden würde, sähe die Lage möglicherweise ganz anders aus.

123recht.de: Vielen Dank für das Interview.

Rechtsanwalt Alexander Nadiraschwili, LL.M. (Sydney)
GEISMAR Rechtsanwälte
Marburger Straße 5
10789 Berlin

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