Ärztliche Aufklärungspflicht über schwerwiegende Nebenwirkungen

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Ist neben dem Hinweis in der Gebrauchsinformation eine zusätzliche Aufklärung nötig?

BGH Urteil vom 15. März 2005 Az. : VI ZR 289/03

Sachverhalt

Die Klägerin begehrt Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens nach einer ärztlichen Heilbehandlung durch die Beklagte, eine Gynäkologin. Diese behandelte die im 30. Lebensjahr stehende Klägerin seit mehreren Jahren wegen einer Dysmenorrhoe mit einer damit einhergehenden Eisenmangelanämie. Sie verordnete der Klägerin, die - wie in der elektronischen Patientendatei vermerkt war - eine Raucherin war, das Antikonzeptionsmittel "Cyclosa" zur Regulierung der Menstruationsbeschwerden. Den von der Klägerin gegen die Verschreibung der "Pille" geäußerten Bedenken, dass sie solche Präparate in der Vergangenheit nicht vertragen habe bzw. diese nicht den gewünschten Erfolg gehabt hätten, begegnete die Beklagte damit, dass es sich um das modernste Mittel für Regelbeschwerden handele und sie ihr ansonsten nicht helfen könne.

Die Klägerin nahm daraufhin das verordnete Medikament seit Ende Dezember 1994 ein. Dessen Gebrauchsinformation enthielt unter dem Punkt "Nebenwirkungen" folgenden Hinweis:

"Warnhinweis: Bei Raucherinnen, die östrogen-gestagenhaltige Arzneimittel anwenden, besteht ein erhöhtes Risiko, an zum Teil schwerwiegenden Folgen von Gefäßveränderungen (z.B. Herzinfarkt, Schlaganfall) zu erkranken. Das Risiko nimmt mit zunehmendem Alter und steigendem Zigarettenkonsum zu. Frauen, die älter als 30 Jahre sind, sollen deshalb nicht rauchen, wenn sie östrogen-gestagenhaltige Arzneimittel einnehmen."

Sechs Wochen später erlitt die Klägerin einen Mediapartialinfarkt (Hirninfarkt, Schlaganfall), der durch die Wechselwirkung zwischen dem Präparat "Cyclosa" und dem von der Klägerin während der Einnahme zugeführten Nikotin verursacht wurde.

Klageabweisung durch das Oberlandesgerichts Rostock

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Zu dem noch geltend gemachten Anspruch auf Schadenersatz wegen der Verletzung einer Aufklärungspflicht hat das Berufungsgericht ausgeführt: Eine Verletzung der Pflicht zur therapeutischen Sicherungsaufklärung sei nicht erwiesen. Zwar habe der Arzt bei der Medikation den Patienten über Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen ins Bild zu setzen und bei gefährlichen Medikamenten Hinweise zu den Komplikationen und einem drohenden Schaden zu geben. Die Klägerin habe aber den ihr obliegenden Beweis für eine unterlassene oder eine unzureichende Sicherungsaufklärung nicht erbracht.

Bei der Medikation mit dem Medikament "Cyclosa" handele es sich jedoch auch um einen Eingriff, für den die Beklagte beim Fehlen einer wirksamen Einwilligung grundsätzlich einzustehen habe. Auch die Behandlung mit aggressiven Medikamenten sei ein Eingriff im weitesten Sinne. Im Hinblick darauf sei die Beklagte gehalten gewesen, die Klägerin über die gefährlichen Nebenwirkungen und insbesondere über die Risiken der Wechselwirkung mit Nikotin zu informieren.

Der der Beklagten obliegende Beweis für eine entsprechende Aufklärung wäre nach den Feststellungen des Landgerichts nicht erbracht worden. Es könne offenbleiben, ob hierfür ein Hinweis auf die Risiken der Wechselwirkung von Nikotin und den Wirkstoffen des Präparats ausgereicht hätte oder ob schon wegen der beruflichen Vorkenntnisse der Klägerin eine Aufklärung hätte entfallen können. Nach Anhörung der Klägerin sei das Berufungsgericht nämlich davon überzeugt, dass sie sich auch nach gehöriger Aufklärung zu einer Einnahme des Medikaments entschlossen hätte. Es habe keine wirkliche Behandlungsalternative gegeben. Zudem habe sich die Klägerin für die Verordnung des Medikaments und dessen Einnahme entschieden, obgleich ihr die Beklagte die Möglichkeit eingeräumt habe, von der Medikation Abstand zu nehmen, und habe sie auch bei ihrer Anhörung ausgeführt, dass sie sich höchstwahrscheinlich für die Einnahme der Tabletten entschieden hätte. Die Klägerin habe sich auch nicht in einem echten Entscheidungskonflikt befunden, weil sie nach ihrer Bekundung sofort mit dem Rauchen aufgehört hätte, sofern sie richtig aufgeklärt worden wäre.

Verschärfung der Aufklärungspflichten durch den BGH

Die Ausführungen des OLG halten einer Überprüfung nicht stand.

  1. Keine Pflichtverletzung der Sicherungs- oder therapeutischen Aufklärung

    Ein Schadenersatzanspruch ergibt sich nicht aus einer Verletzung der Pflicht zur so genannten Sicherungs- oder therapeutischen Aufklärung, also der ärztlichen Beratung über ein therapierichtiges Verhalten zur Sicherstellung des Behandlungserfolgs und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten. In diesem Bereich wären ärztliche Versäumnisse als Behandlungsfehler anzusehen, so dass die Patientin - wie vom OLG richtig angenommen - beweisen müsste, dass die gebotene Aufklärung unterblieben ist oder unzureichend war. Die Auffassung des OLG, die Klägerin habe diesen Beweis für eine unterlassene oder eine unzureichende Sicherungsaufklärung hinsichtlich der Nebenwirkungen des verordneten Präparats nicht erbracht, wird ihr nicht angegriffen.

  2. Reichweite der Eingriffs- oder Risikoaufklärung

    Das OLG Rostock ist auch ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass es sich bei der Verordnung des Medikaments "Cyclosa" um einen Eingriff handelt, für den die Ärztin beim Fehlen einer wirksamen Einwilligung grundsätzlich einzustehen hat. Bei der Aufklärung über eine solche Medikation handelt es sich um einen Fall der so genannten Eingriffs- oder Risikoaufklärung, die der Unterrichtung des Patienten über das Risiko des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens dient, damit dieser sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Die Beweislast für die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht liegt beim Arzt.

    Ausweislich der dem Medikament beigefügten Gebrauchsinformation bestand bei Raucherinnen ein erhöhtes Risiko, an zum Teil schwerwiegenden Folgen von Gefäßveränderungen (z.B. Herzinfarkt oder Schlaganfall) zu erkranken. Dieses Risiko nahm mit zunehmendem Alter und steigendem Zigarettenkonsum zu. Daher war die Ärztin verpflichtet, die Patientin über die mit der Einnahme des Medikaments verbundenen Nebenwirkungen und Risiken zu informieren. Nach der Rechtsprechung des BGH ist auch die Medikation mit aggressiven bzw. nicht ungefährlichen Arzneimitteln als ein ärztlicher Eingriff im weiteren Sinne anzusehen, so dass die Einwilligung des Patienten in die Behandlung mit dem Medikament unwirksam ist, wenn er nicht über dessen gefährliche Nebenwirkungen aufgeklärt worden ist.

    Entgegen der Auffassung des OLG Rostock reicht unter den hier gegebenen Umständen der Warnhinweis in der Packungsbeilage des Pharmaherstellers nicht aus. Kommen derart schwerwiegende Nebenwirkungen eines Medikaments in Betracht, so ist neben dem Hinweis in der Gebrauchsinformation auch eine Aufklärung durch den das Medikament verordnenden Arzt erforderlich. Dieser muss nämlich dem Patienten eine allgemeine Vorstellung von der Schwere des Eingriffs und den spezifisch mit ihm verbundenen Risiken vermitteln. Die Notwendigkeit zur Aufklärung hängt dabei nicht davon ab, wie oft das Risiko zu einer Komplikation führt. Maßgebend ist vielmehr, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet.

    Hier handelte es sich ausweislich des Warnhinweises um eine typischerweise auftretende Nebenwirkung des Medikaments. Das Risiko nahm zwar mit zunehmendem Alter zu, bestand aber ausweislich des Satzes 1 des Warnhinweises auch bei Raucherinnen, die noch nicht älter als 30 Jahre waren. Daher musste die Ärztin die im 30. Lebensjahr stehende Patientin über die spezifischen Gefahren informieren, die für eine Raucherin bei der Einnahme des Medikaments bestanden. Dies gilt umsomehr, als sich nach den Feststellungen des OLG in der elektronischen Patientendatei der Eintrag "Raucherin" befand. In Anbetracht der möglichen schweren Folgen, die sich für die Lebensführung der Patientin bei Einnahme des Medikaments ergeben konnten und hier tatsächlich verwirklicht haben, musste die Ärztin darüber aufklären, dass das Medikament in Verbindung mit dem Rauchen das erhebliche Risiko eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls in sich barg. Nur dann hätte die Patientin ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben können. Dies wäre dann in zwei Richtungen möglich gewesen, nämlich sich entweder dafür zu entscheiden, das Medikament einzunehmen und das Rauchen einzustellen, oder aber bei Fortsetzung des Rauchens auf die Einnahme des Medikaments wegen des bestehenden Risikos zu verzichten. Gerade wegen der bei Rauchern in Betracht zu ziehenden Sucht war die Gabe des Medikaments nur bei einem eindringlichen Hinweis des verordnenden Arztes auf die Gefahren zu verantworten, die bei seiner Einnahme und gleichzeitigem Rauchen bestanden. Deshalb darf in einem solchen Fall der Arzt nicht darauf vertrauen, dass die Patientin den Warnhinweis in der Packungsbeilage lesen und befolgen werde. Im Hinblick auf die Schwere des Risikos reicht es auch nicht aus, dass die Beklagte gesagt haben will, "dass Pille und Rauchen sich nicht vertragen". Damit ist der Patientin nicht hinreichend verdeutlicht worden, welch schwerwiegende Folgen eintreten konnten, wenn sie das Medikament einnahm und gleichzeitig rauchte.

  3. Hypothetische Einwilligung

    Das OLG Rostock ist fehlerhaft von einer hypothetischen Einwilligung der Patientin in die Verordnung des Medikaments ausgegangen.

    1. Berufung auf hypothetische Einwilligung

      Das OLG ist im Ansatz von der Rechtsprechung des BGH ausgegangen, wonach sich die Behandlungsseite - allerdings nur unter strengen Voraussetzungen - darauf berufen kann, dass der Patient auch bei Erteilung der erforderlichen Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte. Das OLG hat auch die Patientin, wie das zur Beurteilung eines etwaigen Entscheidungskonflikts grundsätzlich erforderlich ist, persönlich angehört.

    2. Verstoß gegen Denkgesetze

      Der BGH durfte als Revisiongericht überprüfen, ob der Tatrichter sich mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Hier liegt nach Auffassung des BGH ein Widerspruch und Verstoß gegen Denkgesetze in der Argumentation des OLG Rostock vor. Dieses nimmt an, die Patientin hätte sich auch bei umfassender und ausführlicher Aufklärung für eine Einwilligung in die Behandlung entschieden und nicht von der Medikation abgesehen. Zugleich führt es jedoch aus, die Patientin habe sich nicht in einem echten Entscheidungskonflikt befunden, weil sie nach ihren Bekundungen in der mündlichen Verhandlung sofort mit dem Rauchen aufgehört hätte, sofern sie richtig aufgeklärt worden wäre. Dabei übersieht das OLG jedoch, dass in diesem Fall der Schaden nicht eingetreten wäre, weil der Schlaganfall nach den tatsächlichen Feststellungen gerade durch die Wechselwirkung zwischen Medikament und Nikotin verursacht worden ist. Hätte die Patientin bei ordnungsgemäßer Aufklärung "sofort mit dem Rauchen aufgehört", wäre demgemäß der gesundheitliche Schaden nicht eingetreten. Eine Unterlassung der Aufklärung wäre daher für den Schaden kausal geworden.

      Hat sich das OLG jedoch aufgrund der Anhörung der Patentin die Überzeugung gebildet, dass sie bei erfolgter Aufklärung mit dem Rauchen aufgehört hätte, so kann sich die Frage einer hypothetischen Einwilligung in eine Medikation unter Fortsetzung des Rauchens nicht stellen, weil das OLG der Patientin ersichtlich geglaubt hat, dass sie im Fall der Aufklärung mit dem Rauchen aufgehört und damit das in der Wechselwirkung zwischen Medikament und Nikotin liegende Risiko vermieden hätte.

  4. Wirkung für die Praxis

    Bei möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen eines Medikaments ist neben dem Hinweis in der Gebrauchsinformation des Pharmaherstellers auch eine Aufklärung durch den das Medikament verordnenden Arzt zwingend erforderlich.

    Die Ärzte sind zu einer weitgehenden Aufklärung der Patienten über Nebenwirkungen und Risiken verpflichtet. Selbst ausführliche Warnhinweise in der Packungsbeilage des Pharmaherstellers ersetzen diese Aufklärungspflicht nicht. Die Notwendigkeit zur Aufklärung ergibt sich daraus, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet.

    Die BGH-Entscheidung fordert eine Sorgfalt in der Beratung der Patienten ein, die für viele verantwortungsvoll und umsichtig handelnde Ärzte heute schon Berufspraxis ist.

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