Urheberrecht paradox: Filesharer sind die beste Werbung

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Die Film- und Musikindustrie geht davon aus, dass illegale Down- und Uploads ihr schaden. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Ist das Urheberrecht tatsächlich so unverzichtbar?

Kommentar

Filesharer schauen und verbreiten illegal Filme. Dadurch können noch mehr Menschen diese Filme sehen, ohne etwas dafür zu bezahlen. Im Ergebnis gehen immer weniger Menschen ins Kino oder kaufen sich den Film. Das führt zu Umsatzeinbußen der Industrie, weshalb alle Filesharer mit kostenpflichtigen Abmahnungen überhäuft werden. Klare Sache: Filesharing gehört verboten und diskriminiert.

Diese Argumentation drängt sich regelrecht auf, denn mit diesen Argumenten und Gesetzmäßigkeiten sind wir groß geworden. Umso erstaunlicher, dass aktuelle wissenschaftliche Studien aus unterschiedlichen Ländern derzeit zu einem völlig anderen Ergebnis kommen. Danach ist genau das, was die Filmindustrie immer am meisten anprangert - das Verbreiten eines Filmes per Filesharing - anscheinend Gold wert.

Schaltet man Tauschbörsen wie kino.to und Megaupload ab, sinken gleichzeitig die Einnahmen von Kinofilmen. Über Megaupload wurde ein Großteil von illegalen Downloads abgewickelt. Fehlt diese Möglichkeit der schnellen, weltweiten Verbreitung, brechen gleichzeitig die Umsätze der Filmindustrie ein.

Warum? Die Studien haben eine Vermutung: Filesharer tragen dazu bei, dass Filme in der breiten Bevölkerung ankommen. Filesharing ist Werbung, die Filme auch über Tauschbörsen hinaus bekannt macht. Neben der klassischen Mundpropaganda im Familien- und Bekanntenkreis ("Ja, den Film kenne ich, unbedingt reingehen!") bis zu Social Networks: Filesharing und der Austausch über den Inhalt, Bewertungen und Rezensionen auf einschlägigen Seiten sind die beste Propaganda, die die Macher des Films haben können.

Fehlende Propaganda, weniger Werbung, weniger Aufmerksamkeit. Weniger Umsatz.

Das ist interessant, denn unsere Stimme der Vernunft, die noch im ersten Absatz so selbstsicher argumentiert hat, scheint widerlegt. Und da sie sich nicht gerne widerlegen lässt, verteidigt sie sich. Was sollen denn das für Studien sein, nicht glaubwürdig, davon hätte man doch gehört. Nicht repräsentativ. Das macht ja überhaupt keinen Sinn. Kein echter wissenschaftlicher Beweis. Auf Wikipedia steht davon nichts.

So gestärkt kann man auch die weitere Studie tapfer aushalten. Diese widersetzt sich der Annahme, dass Filesharer Diebe sind, "die kein Geld ausgeben wollen". Ein aktiver Filesharer gibt nach dieser Studie insgesamt weit mehr Geld für Filme und Musik aus, als ein Durchschnittsbürger, der vom Filesharing die Finger lässt.

Als wäre das noch nicht genug kommen weitere Untersuchungen zum Ergebnis, dass die Einführung des Urheberrechts nach Gutenbergs Buchdruckerfindung Künstler im Vergleich zu vorher nicht besser gestellt hat. Stattdessen wurden lediglich wenige Monopolisten erschaffen, die enormen Gewinn machen und die Geschwindigkeit und die Verbreitung von innovativen Ideen kontrollieren oder ganz verhindern.

Der lange, 70-jährige Schutz des Urheberrechts wiederum, so eine weitere Studie, sorgt dafür, dass viele Werke ganz verschwinden und Bücher sterben.

Christian Handke von der Universität Rotterdam stellte außerdem fest: Mit dem Beginn des Filesharing-Zeitalters durch Napster im Jahr 1998 stieg auch das Musikangebot. Sein Ergebnis: "Kreativität braucht kein Copyright."

Ähnlich auch der Hargreaves-Report von Professor Ian Hargreaves. Dieser sieht als Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg von Kreativleistungen "Tempo, Marktzugang, einfache Regeln und niedrige Transaktionskosten wie Transport, Zölle, Vertrieb" ganz vorne. Erst danach kommen Patent- und Urheberrecht.

Blogger Michael Seemann fordert als Konsequenz die völlige Abschaffung des Urheberrechts: „Der Grundfehler der Urheberrechtsdebatte ist die fixe Idee, die Gesellschaft sei den Künstlern ein funktionierendes Geschäftsmodell schuldig."

Joost Smiers, Leiter der Forschungsstelle für Kunst und Ökonomie an der Kunsthochschule Utrecht, schlägt in dieselbe Kerbe: Abschaffung von Urheberrecht und Kulturmonopolisten. Das Urheberrecht helfe nicht den Künstlern, sondern den Medienkonzernen. Sie kontrollieren, "was wir in welchen Zusammenhängen zu sehen, zu hören und zu lesen bekommen. Und vor allem, was nicht."

Die US-Ökonomen Michele Boldrin und David Levine fordern ebenfalls die völlige Abschaffung des geistigen Eigentums. Dies würde eine Innovationswelle auslösen und für die Wiederbelebung der Wirtschaft sorgen. Zu allem Überfluss sind sie dabei weder anarchisch noch polemisch. Sie können Ihre Forderung ziemlich gut und wissenschaftlich fundiert begründen.

Eine Menge Studien und Thesen, die den Sinn und die Existenzberechtigung des bestehenden Urheberrechts anzweifeln und geläufige Annahmen widerlegen. Doch diese Ergebnisse jetzt ungeprüft anzunehmen wäre genauso falsch, wie alle Aussagen der Befürworter des Urheberrechts für bare Münze zu nehmen.

Und doch laden sie ein zu einem Gedankenspiel. Denn das Urheberrecht zu verteidigen und Gegenmeinungen pauschal als Traumtänzerei zu verurteilen, ist einfach. Schwieriger ist es, eine andere Möglichkeit gedanklich überhaupt einmal zuzulassen. Einer anderen Ansicht Raum geben, ohne sie von vorneherein abzuwehren.

Was wäre, wenn?

Was wäre, wenn die Idee, das Urheberrecht komplett abzuschaffen, jetzt einmal sein darf? Wenn sie nicht sofort als Idiotie oder Spinnerei abgetan würde? Wenn eine Idee tatsächlich frei wäre? Wenn man sie nicht klassisch westlich als "meine" Idee betrachten würde, die ich monopolisieren kann, sondern z.B. eher asiatisch als immer vorhandenes Allgemeingut, das ich aufgreife, verändere, verbessere, mit der Möglichkeit, dass wieder andere es aufgreifen, verändern, verbessern können?

Klingt das so abwegig? Gehen viele erfolgreiche Plattformen im Internet nicht jetzt schon genau in diese Richtung? Und wäre das der Todesstoß für Musiker, Schriftsteller, Künstler? Boldrin und Levine sagen nein und widerlegen diese Angst ziemlich gut. Welt und Künstler existierten vor Gutenberg - sie werden nicht zusammen mit dem Urheberrecht untergehen.

Also das Urheberecht komplett abschaffen? Unsere Gesellschaft entwickelt sich bereits in eine Richtung, in der für "geistiges Eigentum" tatsächlich immer weniger Raum ist. Und genau das ist es, was das Internet, als freies, offenes, alles vernetzendes Medium vorgreift. Es geht nicht darum, ob wir es wollen oder nicht. Es passiert. Die Öffnung ist der Strom unserer Zeit.

Das Konstrukt "geistiges Eigentum" wird sich früher oder später durch Zeitablauf erledigen. Wir können uns dagegen stemmen und noch mehr Dämme bauen. Ein Leistungsschutzrecht zum Beispiel. Dann gehen wir mit unseren Dämmen unter. Oder wir folgen der Fließrichtung. Niemand weiß, wohin uns der Fluss führen wird.

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