Rechtsanwalt steigert die Effektivität des Widerspruchsverfahrens

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(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.05.2009, Az. 1 BvR 1517/08)

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde einer Bürgerin zur Entscheidung angenommen und ihr stattgegeben. Die angegriffene richterliche Entscheidung verletzte die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit, ihr war nämlich die Kostenübernahme für einen Rechtsanwalt verweigert worden.

Das Bundesverfassungsgericht hob in der Entscheidung vor allen Dingen die Bedeutung der anwaltlichen Beratung im Widerspruchsverfahren hervor:

"Ein vernünftiger Rechtsuchender darf sich aktiv am Verfahren beteiligen. Dieses Recht wurzelt in dem rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens, der im Verwaltungsverfahren Anwendung findet. Damit wird letztlich dem aus der Menschenwürde abzuleitenden Gebot, dass über die Rechte des Einzelnen nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden darf, Rechnung getragen.

Es kann daher durchaus Anlass bestehen, einen Anwalt hinzuzuziehen, auch wenn es im Vorverfahren weder einen Vertretungszwang noch einen Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts gibt und auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht die Einschaltung eines Anwalts fordert. Ob der bemittelte Rechtsuchende von diesem Recht für das Widerspruchsverfahren vernünftigerweise Gebrauch macht, kann nicht pauschal verneint werden, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.

Dabei wird er sich an den Regeln der Kostenerstattung für das Widerspruchsverfahren [.. .] orientieren. Danach ist die Einschaltung eines Anwalts für den obsiegenden Rechtsuchenden im Ergebnis 'kostenlos', wenn die Hinzuziehung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls notwendig war. Notwendig ist die Zuziehung nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen sowie wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten ist, das Vorverfahren selbst zu führen."

Etwas anderes könne sich nur ergeben, wenn es sich z.B. um ein offensichtliches Missverständnis zwischen Behörde und Bürger handele.

Insbesondere würde die Rechtsmittelbelehrung nicht dazu führen, dass der Bürger selbst Widerspruch - ohne Mithilfe eines Anwalts - einlegen müsse:

"Der Hinweis auf die Form und die Frist der Widerspruchseinlegung in der Rechtsmittelbelehrung mag ausreichen, um unter dem Gesichtspunkt der Fristwahrung ein selbständiges Handeln der Beschwerdeführerin als zumutbar anzusehen; er reicht jedoch nicht aus, wenn sie ihre Interessen dadurch wahrnehmen möchte, rechtliche Einwände im Verfahren vorzutragen und sachdienliche Anträge zu stellen. [.. .]

Es kann der Beschwerdeführerin nicht zugemutet werden, den Rat derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung sie angreifen will.

Schon der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Inanspruchnahme behördlicher Beratung nicht zumutbar sei, wenn eine Vertretung gegenüber einer an sich auskunftspflichtigen Behörde 'zur Durchsetzung von Ansprüchen des Bürgers notwendig ist'. Dieses Verfahrensstadium unterscheidet sich von einer erstmaligen Antragstellung oder einer bloßen Nachfrage bei der Behörde, die in der Regel als zumutbar angesehen werden kann.

Mit dem Entschluss, Widerspruch einzulegen, wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Behörde, der der Bescheid zuzurechnen ist, und nicht gegen bestimmte Mitarbeiter. Der Hinweis des Amtsgerichts auf die organisatorisch getrennte und mit anderem Personal ausgestattete Widerspruchsstelle ist daher nicht ausschlaggebend, wenn wie hier die selbe Behörde als Ausgangs- und Widerspruchsbehörde entscheidet und die internen Strukturen und Verantwortlichkeiten für die Beschwerdeführerin nicht offensichtlich sind.

Soll die Behörde zusätzlich zur Überprüfung auch noch Beratung und Formulierungshilfe beim Widerspruch gegen die eigene Verwaltungsentscheidung leisten, besteht die abstrakte Gefahr von Zirkelschlüssen und Interessenkonflikten. Da die beratungsbedürftige Beschwerdeführerin die verschiedenen Interessen nicht ausreichend durchschaut und zu weiterführenden Rechtsausführungen nicht in der Lage ist, wird sie befürchten, dass die Behörde an der einmal als zutreffend erachteten Entscheidung festhalten wird. Sie wird daher deren Rat misstrauen. Unabhängig von der Frage, ob dieses Misstrauen berechtigt ist, ist der behördliche Rat aus Sicht der Beschwerdeführerin daher nicht mehr geeignet, ihn zur Grundlage einer selbständigen und unabhängigen Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte im Widerspruchsverfahren zu machen.

Daran ändert auch der Hinweis auf die Sachkompetenz der Behörde und deren Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG nichts. Die Behörde ist und bleibt sowohl zu einer rechtmäßigen Sachbehandlung als auch zu einer korrekten Beratung verpflichtet. Dadurch sind Fehlentscheidungen jedoch nicht per se ausgeschlossen. Von der Rechtsuchenden kann nicht erwartet werden, sich darauf zu verlassen, dass die Behörde aufgrund eigener Kompetenz immer zu einer richtigen Entscheidung gelangen werde."

Darüber hinaus habe die Interessenwahrnehmung weitreichende Vorzüge gegenüber einer behördlichen Beratung:

"Dem bemittelten Rechtsuchenden steht [.. .] mit dem Anwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege zur Seite, den er frei auswählen kann und dessen Unabhängigkeit gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Rechtsanwalt darf keine Bindungen eingehen, die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden, er ist zur Verschwiegenheit verpflichtet und darf keine widerstreitenden Interessen vertreten. Diesen berechtigten Anforderungen an die Unabhängigkeit des Beraters genügt die behördliche Beratung nicht.

Außerdem kann die Behörde eine Durchsetzungshilfe nicht im selben Umfang leisten wie ein Rechtsanwalt. Ein Behördenmitarbeiter darf [.. .] nicht zugleich als gewillkürter Vertreter eines Beteiligten auftreten. Demgegenüber kann die Tätigkeit des Rechtsanwalts die Unterrichtung über die Rechtslage, die Empfehlung eines Verhaltens und die Hinweise auf dessen Risiken sowie die Vertretung des Rechtsuchenden als 'Durchsetzungshilfe', angefangen von der Einlegung und Begründung des Widerspruchs über die Abgabe weiterer Erklärungen, Anrufe, Vorsprachen bis hin zur Hilfe für die Beendigung des Widerspruchsverfahrens umfassen. Er trägt durch den Blick 'von außen' insbesondere zur Pluralität der Meinungsbildung und Klärung der Rechtslage bei.

Zu berücksichtigen ist auch, dass das Vorverfahren in ein Klageverfahren mit der beratenden Behörde als potentiellem Prozessgegner münden kann. DasWiderspruchsverfahren dient nicht nur dem Zweck einer Selbstkontrolle der Verwaltung, sondern auch dem Rechtsschutz des Betroffenen und der Entlastung der Gerichte. Als notwendige Prozessvoraussetzung ist es eng mit dem Klageverfahren verknüpft und bezweckt insbesondere die Klärung des künftigen Streitgegenstands. Mit Blick auf die mögliche gerichtliche Auseinandersetzung und die prozessrechtlichen Grundsätze der Waffengleichheit und der gleichmäßigen Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang, ist es unzumutbar, der Beschwerdeführerin eine allein ihren Interessen verpflichtete Beratung,wie sie dem Bemittelten mit dem Anwalt zur Verfügung steht, vorzuenthalten und statt dessen der Behörde mit der Beratungstätigkeit Einfluss auf die Art und Weise der Rechtswahrnehmung des Rechtsuchenden zu geben.

Auch wenn sich im Einzelfall ein objektiver Mehrwert anwaltlicher Beteiligung gegenüber behördlicher Beratung nicht empirisch voraussagen lässt, handelt es sich bei einer zusätzlichen und von außen kommenden Durchsetzungshilfe im Widerspruchsverfahren grundsätzlich um eine geeignete Maßnahme zurEffektivitätssteigerung des Verfahrens."

Diese deutlichen Worte des Bundesverfassungsgerichts sind in der Praxis zu begrüßen. Denn tatsächlich wird die Klärung vieler Rechtsfragen im Widerspruchsverfahren erst durch die Einschaltung eines Rechtsanwalts möglich und gewährleistet. Hierdurch können im Idealfall Klageverfahren vermieden werden. Dies betrifft z.B. Prüfungsentscheidungen im Schulrecht, Bescheide im Sozialrecht, sowie viele Belange von Bundesbeamten.

Sofern das Widerspruchsverfahren durch den Gesetzgeber abgeschafft wurde, kann durch den Bürger nun direkt Klage erhoben werden.