Oh Cäsar, die Totgeweihten grüßen Dich!

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Ein kleiner Richter schlummert in jedem von uns

Wenn die eigene Fußballmannschaft spielt, weiß halb Deutschland es besser als der Trainer. "Falsche Aufstellung, falsche Taktik, falsches Zweikampfverhalten." Verurteilungen fallen uns leicht, auch oder gerade dann, wenn wir nicht beteiligt sind. Speziell bei Justizfällen, die ins Licht der Öffentlichkeit geraten, fühlen sich auf einmal alle zum Richteramt berufen. "Schuldig, aufhängen, wegsperren."

Daumen hoch, Daumen runter. Das Spektakel genießen und verurteilen. Die Rechtsprobleme anderer zur eigenen Belustigung, und möglichst noch versuchen, die eigentlichen Entscheidungsträger zu beeinflussen. Ist der Gerichtssaal der neue Circus Maximus?

Das Interesse an Rechtstreitigkeiten wächst und wächst. Und es geht nicht nur um Verhandlungen von Prominenten wie Michael Jackson. Auch die Probleme der Normalbürger werden in unzähligen Fernsehshows auf die unterschiedlichste Art und Weise aufbereitet. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Und der Dritte hat wahnsinnigen Spaß daran, zuzuschauen und sein eigenes Urteil zu fällen.

Das Urteil des Unbeteiligten ist meist schon parat, bevor die Einzelheiten des Falles bekannt sind. Abschalten oder nicht, fast jeder hatte seine Meinung zum Fall Schiavo, ohne Details zu kennen. Schuldig oder nicht, jeder zweite hat längst sein Urteil im Missbrauchsprozess um Michael Jackson gefällt, schon vor der Zeugenvernehmung.

Du bist gut, du bist schlecht, ins Körbchen, ins Kröpfchen, hängt ihn auf, oh hängt ihn höher. Es macht uns so ungeheuren Spaß, über andere zu urteilen, insbesondere vorzuverurteilen. Doch wehe, jemand urteilt ungefragt über uns. Dem würden wir unmissverständlich klarmachen, seine Nase nicht in unsere Angelegenheiten zu stecken. Woher willst du das denn wissen? Was maßt du dir an, über mich zu richten?

Im Circus Maximus konnte man nicht nur unterhalten werden, sondern auch Scharfrichter spielen. Das Urteil des Kaisers konnte durch den eigenen Daumen beeinflusst werden. So gab der Kaiser nicht selten der öffentlichen Stimme nach, um sich Beliebtheit zu verschaffen.

Ein Richter vor Gericht hingegen sollte sich von der öffentlichen Meinung nicht beeinflussen lassen. Dennoch spricht er sein Urteil "im Namen des Volkes". Und das Volk, das kann gnadenlos sein. Das Volk kümmert es herzlich wenig, ob alle Einzelheiten eines Falles bekannt sind oder nicht.

"Großer Geist, bewahre mich davor, über einen anderen zu richten, ohne in dessen Mokassins gelaufen zu sein" heißt ein indianisches Gebet. Denn heute kann sich auf einmal jeder im Sand vom Circus Maximus wiederfinden und auf die Gnade und Milde von anderen angewiesen sein. Ob vor Gericht, in der Nachbarschaft oder im Arbeitsleben: Vor dem vernichtenden Laienspruch Dritter ist niemand gefeit.