Nach Aktenlage sind wir alle verrückt

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Mollath ist überall. Wir richten uns ständig nur "nach Aktenlage", vertrauen Erfahrungen und Berichten anderer - und urteilen dann ungeprüft.

Das psychiatrische Gutachten über Gustl Mollath soll "nach Aktenlage" entstanden sein. Also ohne, dass der Gutachter den Menschen Mollath je persönlich gesehen, gesprochen oder untersucht hat. Wie kann man sich so etwas vorstellen?

Ganz einfach, denn das Gutachten nach Aktenlage steckt uns im Blut. Wir alle machen es ständig, jederzeit.

Warum sollte ich nach Australien? Von dem Land habe ich schon genug gesehen. Mehrere Dokumentationen im Fernsehen, das reicht doch. Außerdem ist es dort oft heiß, viele Tiere des Kontinents wollen einen töten und das Bier soll auch nicht schmecken. Mein Nachbar war dort, der hat mir einiges erzählt, da muss ich nicht hin. Ich kenne Land und Leute bereits zur Genüge.

Das ist sie, die Aktenlage. Wir bekommen einen Bericht einer dritten Person über etwas, das wir selbst nicht überprüft oder erfahren haben. Jemand schildert einen bestimmten Sachverhalt und wir machen uns diese individuelle Schilderung zu eigen. Wir verbreiten das dann sogar selbst weiter, als wären wir persönlich involviert gewesen.

Stonehenge, jaja, kenne ich. Tolle Atmosphäre. Das ist eine alte Sonnenuhr, ist doch klar. Der Arzt, jaja, den kenne ich. Der ist nicht gut. Das Restaurant, jaja, unfreundliche Bedienung und man muss immer ewig warten. Der neue Freund von Gisela, jaja, der ist verrückt.

So urteilen wir ständig. Auch dann, wenn wir nie selbst in Stonehenge waren, mit dem Arzt noch nie gesprochen, das Restaurant noch nie besucht, den Freund noch nie gesehen haben.

Auch jetzt, in diesem Moment, urteile ich über andere Menschen - hallo Leser - ohne diesen je begegnet zu sein. "Ihr alle macht das so und nicht anders". Herrlich, wie leicht das geht. Verurteilen nach Aktenlage macht Laune.

Und so verkaufen wir das Urteil eines anderen - das vielleicht sogar auch nur nach Aktenlage entstand - als eigenes. Wie auch bei Gustl Mollath. Gutachten nach Aktenlage, alles klar, verrückt und gefährlich, ab in die Psychiatrie.

So ein Gutachten nach Aktenlage kommt in der deutschen Justiz oft vor.

Merken Sie was? Schon übernehme ich wieder Urteile von anderen und verkaufe diese als meine.

Nach Aktenlage würde ich darüber sogar noch weiter urteilen: Sowohl der Akten-Gutachter als auch das Justizsystem handeln rechtswidrig. Denn es gibt § 278 StGB:

"Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."

Ist ein Gutachten nach Aktenlage aber "unrichtig", "wider besseres Wissen"? Es gibt hierzu folgende Kommentierungen der Fachwelt und von Gerichten:

"Da § 278 des Strafgesetzbuches das Vertrauen in die Richtigkeit ärztlicher Atteste schützen will, interpretiert die Judikatur den Tatbestand extensiv und wendet ihn auch an, wenn in dem Zeugnis „ein Befund bescheinigt wird, ohne dass der Arzt überhaupt eine Untersuchung des Patienten vorgenommen hat". Denn „ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstellt, ist als Beweismittel ebenso wertlos wie das Zeugnis, das nach Untersuchung den hierbei festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt."

Da haben wir es. Alles rechtswidrig! Nach Aktenlage stellt sich das für mich so dar. Aber ich war nicht wirklich dabei, bei den Gutachten. Oder vor Gericht. Waren denn die Gutachter wenigstens vor Gericht dabei? Haben Sie Mollath dort erlebt, gesehen, sich Randnotizen gemacht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was ein paar Artikel in den Zeitungen widergeben, was Journalisten und Blogger voneinander abschreiben und was eine Gutachterin bei Beckmann im TV gesagt hat.

Gesagt haben soll. Denn gesehen habe ich den Fernsehbeitrag ebenfalls nicht.

Die Aktenlage ist überall. Übrigens habe ich auch die Kommentierung zu § 278 StGB nicht mit eigenen Augen gesehen. Irgendwer im Internet hat das so behauptet. Ich habe das kopiert und als mein Wissen verkauft. Nachgeprüft habe ich das nicht. Aber ich bin hunderprozentig überzeugt, dass es stimmt. Wirklich.

Den Paragrafen 278 StGB gibt es tatsächlich, in genau dem Wortlaut.

Ehrlich.

Vertrauen Sie mir. Ich hab das studiert. Studium, das heißt, jahrelang Meinungen von anderen vorgesetzt bekommen und sich diese dann zu eigen machen. Im Studium lernt man das Gutachten nach Aktenlage in Perfektion.

Nach Aktenlage ist klar, dass gar nichts klar ist. Aber solange wir uns immer nur in der Scheinrealität von anderen bewegen und diese ungeprüft als eigene Wahrheit annehmen, kann man ruhigen Gewissens attestieren: Wir sind alle bekloppt.

Nach Aktenlage.

Leserkommentare
von geprellt95 am 23.08.2013 13:56:09# 1
Hier auf 123recht.de steht ein guter Artikel unter: Ein Mann, ein Wort.

Beides dürfte wohl auch ein wenig zur Erklärung beitragen, dass man selbst einem Juristen manchmal kritisch gegenüber sein sollte....
Zudem sind auch Gesetze anscheinend nicht unfehlbar... und noch weniger Richter (die nur nach Aktenlage entscheiden), Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Finanzbeamten, Landräte, Politiker.........................................
Vielleicht ist es doch besser sich mal in die Psychiatrie einweisen zu lassen, da bekommt man schöne Pillen, die ganz arg happy machen......
    
von geprellt95 am 04.08.2015 09:18:10# 2
Das ist die Crux:

Ein Gericht fragt nicht nach, ob das alles n u r "Aktenlage" ist,

jedoch braucht es selber bei manchen Verfahren eben doch den "A u g e n s c h e i n",

der dann immer noch ziemlich daneben sein kann (falls man trotz Sehfehler keine Sehhilfe nutzt).
    
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