Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung

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Handicap im Alltag - wie wird ein barrierefreies Leben rechtlich gewährleistet?

Für behinderte Menschen kann der Alltag voller Hürden sein. Ob Zugänge für Rollstuhlfahrer bei Bahnen, Behörden, Geschäften, ob Webseiten, zu denen auch Blinde Zugang haben sollen - das Lösungswort heißt dann schnell Barrierefreiheit. 123recht.de im Interview mit Rechtsanwalt Daniel Hesterberg zur Barrierefreiheit und den dazugehörigen Rechten und Pflichten.

Barrierefreiheit durch Gestaltung der baulichen Umwelt, Information und Kommunikation

123recht.de: Herr Hesterberg, Barrierefreiheit - was ist das überhaupt?

Daniel Hesterberg
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seit 2009
Rechtsanwalt
Marktstraße 17/19
70372 Stuttgart
Tel: 0711-7223-6737
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E-Mail:
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Rechtsanwalt Hesterberg: Die Barrierefreiheit ist als eine (vornehmlich technische) Gestaltung der baulichen Umwelt, der Information und Kommunikation in der Weise zu verstehen, dass sie von Menschen mit Behinderung und von älteren Menschen in derselben Weise genutzt werden kann wie von Menschen ohne Behinderung.

Das Wort „behindertengerecht“ wird regelmäßig nicht mehr verwendet, weil es nicht alle dieser Gestaltungsmöglichkeiten umschließt, die nach Sinn und Zweck dieser Definition und der gesetzgeberischen Zielsetzung gemeint sind, z.B. auch Senioren und Schwangere.

123recht.de: Welche Bereiche der Barrierefreiheit gibt es?

Rechtsanwalt Hesterberg: Praktische Anwendungsgebiete sind vor allem das barrierefreie Bauen und Haushaltsleben, als auch die Nutzung von Geschäfts- und öffentlichen Gebäuden.

Zunehmend ist sie auch für die Kommunikation, das Internet und Fernsehen von gesteigertem Interesse, weil die modernen Kommunikationsmittel mehr und mehr das menschliche Alltagsleben bestimmen, mag es privat oder beruflich sein.

Anspruch auf Barrierefreiheit gegenüber Arbeitgeber

123recht.de: Gibt es einen gesetzlichen Anspruch für Barrierefreiheit? Wem steht dieser Anspruch zu?

Rechtsanwalt Hesterberg: Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen bzw. Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) trat am 1. Mai 2002 in Kraft.

Für die einzelnen Länder gelten Ländergleichstellungsgesetze.

In § 4 – Barrierefreiheit – wird dieses definiert:

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind

Als „behindert“ sind im Rahmen von § 3 körperliche und geistige bzw. seelische Einschränkungen vielfältiger Art zu verstehen, also auch wegen des Alters, Geschlechts und Geisteszustands.

Gesetzliche Ansprüche gibt es in zahlreichen Gesetzesvorschriften, Bauvorschriften, DIN-Regelwerken und Verwaltungsverfahren öffentlicher Behörden. Auch Gebärdensprache und das Recht auf deren Gebrauch ist zum Beispiel gesetzlich bestimmt.

123recht.de: Kann ich von meinem Chef verlangen, das auch an meinem Arbeitsplatz entsprechend umzusetzen?

Rechtsanwalt Hesterberg: Ja, das kann ebenfalls verlangt werden:

Dieses betrifft einerseits der Zugang zum Arbeitsplatz (Aufzug, rollstuhlgerecht etc.) als auch andererseits die Einhaltung von Zielvereinbarungen, die zwischen Verbänden, Unternehmen oder Unternehmensverbänden der verschiedenen Wirtschaftsbranchen für ihren jeweiligen sachlichen und räumlichen Organisations- oder Tätigkeitsbereich getroffen werden.

Die Beschaffenheit der Barrierefreiheit ergibt sich aus den unterschiedlichen Din-Normen

123recht.de: Wie sollte Barrierefreiheit beschaffen sein? Können Sie Beispiele nennen?

Rechtsanwalt Hesterberg: Da sind insbesondere die DIN-Regelwerke und Bauvorschriften zu nennen.

Die DIN-Norm DIN 18024 beschreibt zum Beispiel die Anforderungen für das barrierefreie Bauen öffentlicher Verkehrswege und Gebäude für Behinderte und ältere Menschen, die DIN 18040-2 etwa Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 2: Wohnungen.

§ 39 der Landesbauordnung Baden-Württemberg - Barrierefreie Anlagen – bestimmt:

„Bauliche Anlagen sowie andere Anlagen, die überwiegend von Menschen mit Behinderung oder alten Menschen genutzt werden, wie etwa Wohnungen und Heime für Menschen mit Behinderung, sind so herzustellen, dass sie von diesen Personen zweckentsprechend ohne fremde Hilfe genutzt werden können (barrierefreie Anlagen wie Rollstuhlrampen und– hebebühnen etc.).

Ausnahmen von der Barrierefreiheit gib es z.B. bei denkmalgeschützten Gebäuden

123recht.de: Es gibt ja eine Vielzahl unterschiedlicher Behinderungen und körperliche Einschränkungen. Alle abzudecken ist sicherlich unmöglich. Gibt es Grenzen bzw. Ausnahmen von der Barrierefreiheit? Wie ist das z.B. mit denkmalgeschützten Gebäuden?

Ausnahmen werden durchaus gemacht, da es gilt, die verschiedenen Interessen gegeneinander abzuwägen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu halten.

Es gibt da einen Bestandsschutz bei denkmalgeschützten Gebäuden:

Aus dem Wortlaut des § 7 BGG NRW folgt z. B., dass die Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit für die unter das Behindertengleichstellungsgesetz fallenden (öffentlichen) Stellen nur für die Errichtung oder Änderung baulicher Anlagen besteht. Eine rechtliche Verpflichtung zur systematischen Erfassung und Beseitigung von bestehenden Barrieren im (Alt) Bestand folgt aus § 7 BGG NRW hingegen nicht.

123recht.de: Wer entscheidet über Ausnahmen?

Rechtsanwalt Hesterberg: Das sind zum einem die Fachbehörden, die nach dem Landesbaurecht und –denkmalschutzrecht handeln, können aber zudem zum anderen im Rahmen der Zielvereinbarungen mit Privatunternehmen enthalten sein.

123recht.de: Ist Barrierefreiheit ein einklagbares Recht?

Rechtsanwalt Hesterberg: Zum gewissem Teil gibt es dieses, wenn auch eher momentan nach meiner Einschätzung noch etwas zurückhaltend, für Privatpersonen:

Hörbehinderte Menschen (Gehörlose, Ertaubte, hochgradig Schwerhörige) haben das Recht, in Verwaltungsverfahren mit Trägern der öffentlichen Verwaltung in Deutscher Gebärdensprache oder mit lautsprachbegleitenden Gebärden zu kommunizieren.

Auch eine so genannte Verbandsklage ist möglich:

Ein gesetzlich nach dem BGG anerkannter Verband kann, ohne in seinen Rechten verletzt zu sein, Klage erheben, etwa auf Feststellung eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot für Träger der öffentlichen Gewalt oder des Wahlrechts.

123recht.de: Gibt es Sanktionen, wenn z.B. ein Neubau nicht Barrierefrei geplant und umgesetzt wird?

Rechtsanwalt Hesterberg: Ja, es greift da das baurechtliche Handlungsinstrumentarium, dass heißt, das Bauaufsichtsamt kann baurechtmäßige Zustände verlangen und gegebenenfalls im Wege der Vollstreckung durchsetzen.

Behinderte Menschen können sich bei Fragen an BKB Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e. V. wenden

123recht.de: Gibt es für Menschen mit Handycap eine Anlaufstelle, bei der man sich informieren kann?

Rechtsanwalt Hesterberg: Das BKB Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e. V. ist ein Zusammenschluss von 15 bundesweit tätigen Sozial- und Behindertenverbänden, was im Jahr 2008 auch auf Anregung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) als Kompetenzzentrum der Behindertenverbände gegründet wurde. Sein Ziel ist die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), insbesondere die Herstellung von Barrierefreiheit.

123recht.de: Vielen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

Daniel Hesterberg
Rechtsanwalt


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Leserkommentare
von guest-12314.02.2017 12:55:29 am 11.09.2015 19:14:01# 1
Es geht um Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung.

Es heißt so schön im § 4 Behindertengleichstellungsgesetz:
"Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen ... nutzbar sind.

Ja, theoretisch hört sich dies sehr gut an. Die Praxis sieht aber leider anders aus.

Hier nur eins von vielen Beispielen.
Ich habe eine Rot-Grün-Sehschwäche, wie nicht wenige Bundesbürger, und kann die Farbe Rot schlecht erkennen. Als Autofahrer habe ich daher das Problem, die Zeiger der Instrumente (insbesondere vom Tacho) kaum zu erkennen, wenn diese in der Farbe Rot hergestellt wurden. Dies ist aber heutzutage, nur aus Design-Gründen, bei fast allen PKWs so üblich. Die roten Zeiger auf schwarzem Hintergrund kann man aber als Behinderter mit Farbschwäche ganz schlecht erkennen. Es wäre ein Leichtes für die Kfz-Industrie, entsprechend dem o. g. Paragrafen, nur weiße Zeiger auf schwarzem Hintergrund einzubauen. Dies würde nicht nur den farbschwachen Menschen zugute kommen, sondern auch allen anderen Fahrern, da weiß auf schwarz den größtmöglichen Kontrast bietet und damit der Verkehrssicherheit dient. Mehrkosten würden den Herstellern hierdurch keinen einzigen Cent entstehen. -
Aber leider ist der gute Wille hierzu nicht vorhanden!

Ich habe mich diesbezüglich an mehrere Behörden und Kfz-Hersteller gewandt. Man stößt auf ''''taube Ohren''''. Weder das Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg, noch das Bundesministerium für Verkehr in Berlin, die Volkswagen AG oder die Automobil-Clubs fühlten sich zuständig, am bestehenden System etwas zu ändern.

Selbst im Grundgesetz heißt es ja in Art. 3. Abs. 3, Satz 2: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."

Aber was nutzen Gesetze, die weder die Behörden noch die Wirtschaft beachten? Nichts!

Dabei wäre mit etwas gutem Willen vieles zu erreichen. Aber leider fehlt dieser an vielen Stellen in unserer Gesellschaft!